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Energie Europas Wirtschaft ist viel besser als ihr Ruf

Das Ladeschiff Neptun liegt im Hafen von Lubmin
LNG-Terminal in Lubmin: In Rekordzeit wurde eine Infrastruktur für Flüssiggas in Deutschland aufgebaut
© IMAGO / Frank Ossenbrink
Die robuste deutsche Entwicklung nach dem Ende der russischen Gaslieferungen zeigt: Märkte können sich anpassen, wenn man sie lässt

„Nicht einmal eine Rezession.“ So lautet das Fazit. Und das, nachdem Deutschland im Jahr 2022 Hals über Kopf ohne russische Energielieferungen hatte klarkommen müssen. Als das Land sich also aus einer Abhängigkeit befreien musste, die seine Regierungen über ein halbes Jahrhundert hinweg aufgebaut hatten, aus politischen wie aus ökonomischen Beweggründen.

Die Phrase mit der Rezession ist der Titel einer neuen Studie der Ökonomen Benjamin Moll, Moritz Schularick und Georg Zachmann. Darin analysieren die Autoren die Lage der deutschen Volkswirtschaft und vergleichen sie mit den düsteren Vorhersagen aus der Zeit unmittelbar nach Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine. In der Folge des Angriffs kam es zu dem, was die Wissenschaftler die „große deutsche Gasdebatte“ nennen – einem erhitzten Streit zwischen Ökonomen, Unternehmens-Lobbyisten und Gewerkschaften über die Frage, ob die Volkswirtschaft ein Ende der russischen Gasimporte überhaupt verkraften könnte.

Apokalyptische Prognosen

Moll und seine Kollegen erinnern daran, wie apokalyptisch manche der damaligen Prognosen waren. Es gab Stimmen, die vor einem Wirtschaftseinbruch von bis zu zwölf Prozent warnten und davor, dass Millionen von Menschen ihre Arbeit verlieren könnten. Wer derartige Vorhersagen infrage stellte, wurde von Bundeskanzler Olaf Scholz als „unverantwortlicher“ Theoretiker gemaßregelt.

Die Untergangspropheten waren die politischen Sieger der Debatte. Deutschland baute beeindruckend rasch eine neue Infrastruktur auf und erschloss Alternativen für das Gas aus Russland. Das Land hatte – das wird oft vergessen – nie aktiv beschlossen, sich von dem Lieferanten zu trennen. Russlands Präsident Wladimir Putin nahm der Regierung in Berlin diese Entscheidung gewissermaßen ab, indem er die Versorgung langsam herunterfuhr, bevor sie dann im Sommer 2022 vollends zum Erliegen kam. Die EU als Ganzes brauchte viel zu lange, um sich auf Beschränkungen für russische Energieimporte zu einigen, und selbst jetzt gibt es noch Lücken.

Industrie legte zu

Doch auch wenn die Angstmacher die Diskussion bestimmten, so sollten die Optimisten doch Recht behalten (ich bin als Autor in dieser Frage nicht objektiv, da ich eine Woche nach Kriegsbeginn die Ansicht vertrat, dass Europa einen kalten Entzug von russischem Gas verkraften könnte). Moll und seine Mitautoren zeigen auf, dass die deutsche Wirtschaftsentwicklung am Ende am oberen Ende der Schätzungen landete. Es gab keinen Domino-Effekt von Produktionseinbrüchen, Insolvenzen und Entlassungen in den energieintensiven Branchen, der die größere Volkswirtschaft in Mitleidenschaft gezogen hätte. Trotz eines Rückgangs im März legte die Industrieproduktion 2022 insgesamt im Vergleich zum Vorjahr zu.

Den Mythos, Deutschland und sein Energieverbrauch seien dabei von einem milden Winter gerettet worden, räumen die Autoren gleich ab. Die Temperaturen lagen laut der Wetterdaten nicht über dem langjährigen Trend. Ein Blick auf die Füllstände in den Gasspeichern zeigt: Es war auch ohne die russischen Gaslieferungen genug da. Ein kalter Entzug wäre problemlos möglich gewesen.

Natürlich ist es ein Grund zu feiern, dass sich die deutsche Wirtschaft als so widerstandsfähig erwiesen hat. Doch es ist wichtig, aus diesem Fall auch die richtigen Schlüsse zu ziehen. Warum wandte sich die öffentliche Meinung gegen einen politischen Weg, der sowohl moralisch als auch geostrategisch der richtige gewesen wäre? Warum galt dieser Weg als zu teuer?

Europäische Denkfehler

Es gibt zwei Antworten auf diese Fragen, eine sehr harsche und eine etwas verständnisvollere. Die harsche Antwort ist: Manche deutschen Unternehmer hoffen, der Widerstand gegen Putin werde ihnen keinerlei Kosten abverlangen, ein irregeleiteter Wunsch. Die andere Antwort lautet, dass Deutschland und Europa insgesamt eine Reihe von Denkfehlern begangen haben. Es wird auf dem Kontinent generell oft unterschätzt, wie anpassungsfähig Marktwirtschaften sind und wie flexibel sie auf Schocks reagieren können. Probleme einzelner Unternehmen werden zu oft als Bedrohungen für die Volkswirtschaft als Ganzes interpretiert. Dabei entsteht Wachstum in der Marktwirtschaft gerade dadurch, dass Unternehmen, die sich nicht anpassen können, untergehen – die „kreative Zerstörung“.

Hinzu kommt, dass europäische Politiker oft noch einen negativen Blick auf die eigene Wirtschaft haben, der von einer weitgehend überholten Kritik geprägt ist. Europa gilt da oft als nicht flexibel oder sogar erstarrt. Deutschland große Gasdebatte ist dabei nur ein besonders anschauliches Beispiel dafür, wie sehr Europa seine eigene Anpassungsfähigkeit unterschätzt. Es lassen sich auch andere anführen. So hatten nur wenige damit gerechnet, dass die Beschäftigung in der Erholungsphase nach der Pandemie so in die Höhe schnellen würde. Der Wiederaufbaufonds, ein Tabu-Bruch für die EU, heizt das Wachstum in Staaten an, die von vielen auf Jahre hin abgeschrieben worden waren.

Diese Beispiel sollten uns ermutigen, wenn wir nicht in Angst verharren wollen und in einem mangelnde Verständnis davon, was die europäischen Volkswirtschaften zu leisten imstande sind. Es geht hier nicht nur um Emotionen, sondern um handfeste politische Risiken, die eine Fehleinschätzung der eigenen Kraft mit sich bringt – vereint mit der Interessenspolitik der etablierten Unternehmen.

Große politische Risiken

So musste Brüssel das Tempo der Dekarbonisierung herunterfahren, weil Deutschland und Frankreich sich in entscheidenden Fragen querstellten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron forderte sogar eine „Pause von der Regulierung“. Deutsche Autobauer drängen darauf, Strafen für Elektroautos, die nicht mit in Europa produzierten Batterien ausgestattet sind, erst später einzuführen.

Immer heißt es in all diesen Fällen, dass zu viele Veränderungen zu schwer zu verkraften seien. Doch die deutsche Gasdebatte hat gezeigt, dass eine Volkswirtschaft flexibler ist als die Summe ihrer Mitglieder. Wenn einzelne Unternehmen sich der Veränderung widersetzen, werden die Märkte den Weg freimachen für die, die dazu willens und in der Lage sind. Die europäische Wirtschaftspolitik sollte diese Marktkräfte fördern – und sich nicht dagegen stemmen.

Copyright The Financial Times Limited 2023

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