Es war eine Razzia in der Konzernzentrale, die den Beginn des Endspiels beim Zahlungsdienstleister Wirecard markierte. Anfang Juni ließ die Staatsanwaltschaft München I die Geschäftsräume in Aschheim durchsuchen. Wenige Tage zuvor hatte die Finanzaufsicht Bafin Strafanzeige gegen Wirecard-Verantwortliche gestellt. Darin ging es um irreführende Ad-hoc-Meldungen des damaligen Dax-Konzerns in den Wochen, bevor der Bericht einer KPMG-Sonderprüfung veröffentlicht wurde. Danach ging alles sehr schnell: Zwei Wochen nach der Razzia verweigerte der Wirtschaftsprüfer EY sein Testat , weil Nachweise für angebliche Barguthaben von 1,9 Mrd. Euro auf Treuhandkonten in Asien fehlten. Am 25. Juni meldete Wirecard Insolvenz an. Seitdem ermittelt die Münchner Staatsanwaltschaft gegen Ex-Konzernchef Markus Braun und weitere Manager, unter anderem wegen des Verdachts auf gewerbsmäßigen Bandenbetrug.
Doch tatsächlich war die Razzia im Juni 2020 nicht die erste, die deutsche Ermittler bei Wirecard durchführten. Wie eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft München I auf Anfrage von Capital bestätigte, gab es bereits im Jahr 2015 „Ermittlungsmaßnahmen im Rahmen einer Rechtshilfe für das US-amerikanische Justizministerium“. Nähere Informationen zu dem Anlass und den Folgen der Razzia wollte die Sprecherin unter Verweis auf die „Pressehoheit“ der Amerikaner bei diesem Verfahren nicht geben. Darüber hinaus habe „die beantragende Behörde um strikte Vertraulichkeit gebeten“.
Wie aus internen Unterlagen der Staatsanwaltschaft hervorgeht, erfolgte die Razzia am 1. Dezember 2015. Dabei habe es sich um eine „groß angelegte Durchsuchungsaktion“ wegen Geldwäsche gehandelt, heißt es in Dokumenten, die Capital vorliegen. Nach Angaben von Insidern dürfte die Rechtshilfe für die US-Behörden im Zusammenhang mit illegalen Transaktionen für Online-Kasinos gestanden haben.
Hartes Vorgehen der US-Behörden
Bereits einige Jahre zuvor, im Oktober 2006, hatte die amerikanische Regierung den Unlawful Internet Gambling Enforcement Act (UIGEA) in Kraft gesetzt – ein Gesetz, das Banken und Kreditkartenfirmen die Abwicklung von Glücksspieltransaktionen in den USA verbietet, um illegalen Kasinos im Internet auf diese Weise das Geschäft abzudrehen. Weil die USA der größte Online-Gamblingmarkt der Welt sind, entwickelten in der Folge einige Paymentprovider jedoch aufwändige Verfahren, die solche illegalen Transaktionen tarnten, damit Kreditkartenanbieter wie Visa und Mastercard sie nicht identifizieren konnten. Einige Zeit später ging die US-Bundespolizei FBI dann massiv gegen die Online-Glücksspielbranche vor: Im April 2011 nahm sie die größten Pokerwebsites vom Netz. Einige Manager wurden später zu Haftstrafen verurteilt.
Dass der Wirecard-Konzern seit Mitte der 2000er-Jahre zu den führenden Dienstleistern zählte, die Glücksspielanbietern beim Austricksen der US-Regulierung halfen, war in der Branche schon damals ein offenes Geheimnis. Für die Tarnung der Zahlungen wurden in vielen Fällen eigens gegründete Fake-Internetshops für Blumen oder andere Produkte genutzt, die auf den Kreditkartenabrechnungen der Spieler auftauchten. Diese wurden vielfach von Personen aus dem Wirecard-Umfeld kontrolliert.
Konkret beschrieben und belegt wurden dieses Geschäftsmodell und die langjährigen illegalen Dienste von Wirecard für Online-Kasinos dann in einem Bericht einer Analysefirma namens Zatarra Research & Investigations, der am 24. Februar 2016 veröffentlicht wurde – also knapp drei Monate nach der Razzia, die die Staatsanwaltschaft München I auf Ersuchen des US-Justizministeriums in Aschheim durchführte. Bei Zatarra, benannt nach einer Figur aus dem Roman „Der Graf von Monte Christo“, handelte es sich um eine bis dahin unbekannte Firma, deren Hintermänner zunächst im Dunkeln blieben. Dennoch brach der Kurs der Wirecard-Aktie am Tag der Publikation des Reports um mehr als 25 Prozent ein – auch weil der „Financial-Times“-Journalist Dan McCrum darüber berichtete. Das damals im TecDax notierte Unternehmen wehrte sich, indem es die Vorwürfe in dem 100-Seiten-Bericht als „gänzlich unwahr“ und „verleumderisch“ zurückwies. Sie seien das Werk von Spekulanten, die den Aktienkurs negativ beeinflussen wollten.
Nach der Veröffentlichung des Zatarra-Reports leitete zunächst die deutsche Finanzaufsichtsbehörde eine Untersuchung ein, um mögliche Marktmanipulation zu prüfen. Nach der Publikation des Berichtes hatten mehrere Banken der Bafin eine Reihe auffälliger Geschäfte gemeldet, bei denen institutionelle Anleger und Einzelpersonen in den Wochen vor der Publikation des Zatarra-Reports mithilfe von Leerverkäufen sowie Derivaten wie Put-Optionen Short-Positionen eingegangen waren – und nach der Veröffentlichung einen Gewinn einstrichen. Im Mai 2016 stellte die Bafin Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft München I wegen des Verdachts der Marktmanipulation. In ihrer Strafanzeige, die Capital vorliegt, benannte die Aufsichtsbehörde mehr als 30 verdächtige Investoren, unter anderem aus Großbritannien, den USA und Israel. Die Höhe des Gewinns der Leerverkäufer, der laut Bafin zu diesem Zeitpunkt bekannt war: knapp 3,3 Mio. Euro.
Im Laufe des Ermittlungsverfahrens kamen zu den Beschuldigten auch die Autoren des Zatarra-Reports hinzu. Auch hier ging es um den Verdacht der Marktmanipulation – nicht zuletzt, weil die Verfasser darauf hingewiesen hatten, dass sie selbst mit Wertpapiergeschäften auf einen Kursrutsch setzen. Nach der Short-Attacke im Februar 2016 hatte Wirecard die Sicherheitsfirma Kroll und die Großkanzlei Jones Day damit beauftragt, die Urheber des Berichts zu ausfindig zu machen. Im Rahmen ihrer Recherchen beschatteten Privatermittler auch die vermuteten Autoren. Im Internet tauchten gehackte E-Mails auf. Einer der Verfasser wurde von einem Unbekannten über eine Stunde in seinem Auto festgehalten und bedroht, als er vor der Schule seiner Tochter parkte. Über diese und weitere Vorfälle, nach denen die britische Polizei eingeschaltet wurde, informierten Anwälte eines der Zatarra-Autoren Ende 2016 auch die Bafin. Auf deren Bitte zu prüfen, ob Wirecard hinter den Einschüchterungsversuchen steckt, verwies die Finanzaufsicht allerdings darauf, sie sei für derlei Beschwerden nicht zuständig.
Als zentrale Köpfe hinter Zatarra stellten sich der Brite Fraser Perring, ein Ex-Streetworker, und der Analyst Matthew Earl heraus. Doch in zweijährigen Ermittlungen gelang es den Münchner Staatsanwälten nicht, den beschuldigten Investoren eine Beteiligung an der Erstellung des Zatarra-Berichts oder Verbindungen zu den Verfassern Earl und Perring nachzuweisen. Im November 2018 stellte sie die Ermittlungen gegen die Händler ein – zum Ärger der Wirecard-Führung, deren Anwälte Widerspruch gegen die Entscheidung einlegten. Auch die Bafin war unzufrieden mit der Einstellung der Ermittlungen und regte an, Durchsuchungen bei den Investoren im Ausland zu erwirken – insbesondere im Fall einer Person, die im Jahr 2018 auch an einer Short-Attacke gegen Pro Sieben Sat 1 beteiligt war. Doch die Staatsanwälte blieben bei ihrer Entscheidung.
Ermittler interessierten sich mehr für die Wirecard-Kritiker
Darüber hinaus einigten sie sich mit Zatarra-Co-Autor Earl darauf, gegen eine Geldauflage in fünfstelliger Höhe von einer Anklageerhebung abzusehen. Gegen Perring, den die Münchner Ermittler als treibende Kraft bei Zatarra sahen, erwirkte die Staatsanwaltschaft Ende 2018 beim Amtsgericht München einen Strafbefehl – unter anderem wegen falscher beziehungsweise unvollständiger Behauptungen im Report zu etwaigen Verstößen von Wirecard gegen das US-Anti-Glücksspielgesetz UIGEA. Nach einem Einspruch Perrings gegen den Strafbefehl stellte das Amtsgericht im Mai 2019 dann jedoch das Verfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft als minderschweren Fall ebenfalls ein. Bedingung war auch hier eine Geldauflage in niedriger fünfstelliger Höhe.

Aus den Ermittlungsakten zum Fall Zatarra geht hervor, dass sich die Münchner Staatsanwälte in erster Linie für die Wirecard-Kritiker und Leerverkäufer interessierten – und weniger für die konkreten Vorwürfe gegen den Konzern, den diese auch in Folgeberichten untermauerten. Damit weist dieses Verfahren Parallelen zu einem früheren Fall auf, als ein Vertreter des Anlegerschützervereins SdK und der Investor Tobias Bosler Vorwürfe gegen Wirecard erhoben, zugleich aber auch als Leerverkäufer aktiv waren. Damals ermittelte die Staatsanwaltschaft München I zwischen 2010 und 2012 auch gegen Wirecard-Verantwortliche wegen illegaler Transaktionen für Online-Kasinos in den USA, stellte die Ermittlungen aber später ein . Ähnlich war es dann im Jahr 2019: Nach erneuten kritischen Berichten über Wirecard in der „Financial Times“, in deren Umfeld es verstärkt zu Leerverkäufen kam, leitete die Behörde nach einer Anzeige der Bafin nicht nur ein Verfahren gegen die entsprechenden Marktteilnehmer ein, sondern auch gegen zwei „FT“-Journalisten, die sie ebenfalls der Marktmanipulation verdächtigte.
Als treibende Kraft hinter den Ermittlungen gegen Wirecard-Kritiker sieht Zatarra-Autor Perring heute die deutsche Finanzaufsicht. „Nach meiner Meinung hat die Bafin Wirecard eindeutig geschützt und die Kritiker wie ein persönlicher Kampfhund des Konzerns verfolgt“, sagte Perring gegenüber Capital. Wann immer es Untersuchungen zu Wirecard gegeben habe, seien diese bald beendet und wichtige Erkenntnisse ignoriert worden. „Es ist absurd, wenn die Bafin und ihre Führung nach der Insolvenz jetzt behaupten, sie hätten bei Wirecard nicht mehr machen können“, sagte Perring, der zu den prominentesten Shortsellern gehört und mit seiner neuen Analysefirma Viceroy Research Ende 2017 den milliardenschweren Bilanzfälschungsskandal bei dem südafrikanisch-deutschen Möbelkonzern Steinhoff aufdeckte . Aktuell erhebt Viceroy auch schwere Manipulationsvorwürfe gegen den Leasingspezialisten Grenke.
Dagegen verteidigt Bafin-Präsident Felix Hufeld das Vorgehen seiner Behörde bei Wirecard vehement. Die Bafin habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und sei pflichtgemäß Verdachtsmomenten nachgegangen, sagte er am Dienstag bei einer Konferenz der „Süddeutschen Zeitung“. Die Forderung des Linken-Abgeordneten Fabio De Masi und anderer, sich bei den verfolgten Wirecard-Kritikern zu entschuldigen, halte er deshalb für „obszön“ und den Versuch, „eine Aufsicht mürbe zu machen“. Auch die umfangreichen Geschäfte seiner Beamten mit Wirecard-Aktien und Derivaten, die Capital in den vergangenen Monaten enthüllte, hält Hufeld für unbedenklich.
Anzeige von Whistleblower, Bafin wiegelt ab
Wie aus Akten im Fall Zatarra zu entnehmen ist, prüfte die Münchner Staatsanwaltschaft im März 2016 zwar auch Ermittlungen gegen den langjährigen Wirecard-Chef Braun und weitere Konzernmanager. Konkreter Anlass war die Anzeige eines anonymen Hinweisgebers, der am Tag nach der Veröffentlichung des Zatarra-Berichts in einer sehr allgemeinen, etwas wirren Mitteilung Vorwürfe gegen das Management erhob. Es gehe um eine „Aktienmanipulation im großen Stil“, hieß es darin. Zudem seien Wirecards Wirtschaftsprüfer „100% geschmiert, um da mitzuspielen“.
Daraufhin legten die Staatsanwälte einen Prüfvorgang an. Nach Rücksprache mit der Bafin sahen sie jedoch kurz darauf von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ab, wie aus einer Antwort des bayerischen Justizministeriums auf eine aktuelle Anfrage der Grünen-Fraktion im bayerischen Landtag hervorgeht: „Auf Grundlage der von der Bafin erteilten Auskünfte bestand insoweit kein Anfangsverdacht.“
Inwiefern die Staatsanwaltschaft – neben der Nachfrage bei der Bafin – auch selbst den konkreten Erkenntnissen aus dem Zatarra-Report nachgegangen ist, ist bis heute unklar. Denn die Autoren Perrings und Earl hatten ihre Vorwürfe zu den Verstrickungen von Wirecard in illegale Glücksspieltransaktionen mit umfangreichen offiziellen Dokumenten belegt, die sich nicht einfach vom Tisch wischen lassen. Nach Angaben von Perring ließen die Zatarra-Autoren ihren Report bereits im Herbst 2015 zahlreichen Behörden zukommen, darunter auch in den USA – also wenige Wochen, bevor die Münchner Staatsanwaltschaft auf Ersuchen des US-Justizministeriums die Wirecard-Zentrale durchsuchen ließ. Da liegt nicht nur die Frage auf der Hand, ob der Zatarra-Bericht womöglich eine Rolle für die Razzia gespielt hat – sondern auch, ob bei der Aktion Erkenntnisse gewonnen wurden, die für das Ermittlungsverfahren im Fall Zatarra oder die Vorwürfe gegen Wirecard von Bedeutung waren. Doch auch dazu gibt es von der Münchner Staatsanwaltschaft unter Verweis auf die Verfahrenshoheit der US-Behörden keine Antwort. So bleibt es Spekulation, ob der Wirecard-Betrug schon damals hätte beendet werden können.

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