Die Debatte über die Wachstumsaussichten der Schwellenländer ist jetzt voll entbrannt. Pessimisten weisen auf die befürchtete Umkehr der privaten Kapitalströme hin, ausgelöst durch den Ausstieg der Fed aus ihrem Programm zum Aufkauf langfristiger Anleihen, als auch auf Schwierigkeiten bei den Strukturreformen der sogenannten zweiten und dritten Generation und die begrenzten Wachstumsmöglichkeiten außerhalb der Industrie. Optimisten argumentieren, dass das Potenzial für schnelles Wachstum aufgrund der besseren makroökonomischen Fundamentaldaten und den Aussichten auf eine Verbreitung von Best-Practice-Technologien enorm bleibt.
Also was stimmt?
Die jüngsten Ereignisse zeigen einmal mehr die Bedeutung von Good Governance und reaktionsfähigen politischen Systemen, ein vertrautes Thema in Studien zum langfristigen Wirtschaftswachstum. Länder, die über eine lange Zeit erfolgreich waren, wie die Türkei oder Thailand, sehen sich plötzlich Hindernissen gegenüber, die zurückzuführen sind auf Governance und die Fähigkeit, innenpolitische Kompromisse zu schmieden. Die daraus resultierende Spaltungen und Funktionsstörungen sind sicherlich größere Bedrohungen als die Maßnahmen der Fed.
Es kommt auf die Art der Governance an, ob die Menschen ihre Talente entfalten können und sie ihre Energie für Innovation, Produktion und die Schaffung von Arbeitsplätzen einsetzen können oder ob sie Rent-Seeking und Lobbyarbeit für politische Unterstützung betreiben müssen. Der Kontrast zwischen Ägypten und Tunesien könnte sich als Lehrstück erweisen für die Frage, was den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg ausmacht.
Tunesien ist auf dem richtigen Weg
In Ägypten brach das alte Regime unter Hosni Mubarak, das sich einer Demokratisierung verweigert hatte, nach massiven Protesten zusammen. Bei der darauffolgenden Wahl mit niedriger Beteiligung erhielt die Muslimbruderschaft die meisten Stimmen, die allein die Macht an sich riss und damit fortfuhr die Regeln guter Regierungsführung zu missachten, womit sie bis auf ihre glühendsten Anhänger allen vor den Kopf stieß.
Der Governance-Ansatz der Bruderschaft erklärt auch das Chaos, das sie in der Wirtschaft anrichtete. Anstatt zu versuchen, überparteiliche und kompetente Regulierungsinstitutionen aufzubauen, besetzte sie alle Positionen mit ihren politischen Anhängern. Leider brachte die militärische Intervention im Juli letzten Jahres ein weiteres Regime an die Macht, das unfähig scheint, stabile Institutionen aufzubauen, die die politische Versöhnung voranbringen und für integratives Wachstum sorgen könnten.
Tunesien kann als Beispiel für ein gegenteiliges Szenario dienen: ein echter Verfassungskompromiss, der von einer überwältigenden Mehrheit gestützt wird (was in einem 200-16-Votum in der Nationalversammlung zum Ausdruck kam). Wenn dieser Kompromiss Bestand hat, wird Stabilität Einzug halten, Märkte werden funktionieren, Tunesien wird Investitionen anziehen und der Tourismus wird wieder gedeihen.
Im Kern liegt der Unterschied zwischen den beiden Fällen in einer Vorstellung vom Regieren, die solche Kompromisse ermöglicht. Eine solche Vorstellung setzt die Gewissheit voraus, dass kein Winner-take-all-System etabliert wird, sowie eine breite Übereinstimmung, dass Regulierungsinstitutionen vernünftigerweise überparteilich und mit kompetenten Fachleuten besetzt sein müssen.
China ist ein Sonderfall
Chinas langanhaltender Erfolg wird manchmal als Gegenbeispiel der Bedeutung von Good Governance für die Wirtschaftsleistung angeführt. Das chinesische Beispiel stellt sicherlich die starke Korrelation zwischen Mehrparteien-Demokratie und Wirtschaftswachstum infrage.
Demokratie ist natürlich ein Wert für sich und unabhängig von seiner Wirkung auf das Wirtschaftswachstum erstrebenswert. Aber im Kontext der Wirtschaftsleistung ist es wichtig zu betonen, dass es einen großen Unterschied zwischen diktatorischen Regimen, wo eine einzelne Person alle Macht monopolisiert - à la Mubarak oder Syriens Präsident Bashar al -Assad - und China gibt, wo Wettbewerb und Anfechtungsmöglichkeiten innerhalb einer großen kommunistischen Partei existiert. Und es ist diese Partei, eine recht umfassende und leistungsorientierte Institution, nicht ein autokratischer Führer, die in der Nach-Mao-Zeit regiert hat.
Der Mangel an nachvollziehbarer unabhängiger Regulierung und kompetenter öffentlicher Verwaltung – oder, schlimmer noch, Ein-Personen-Diktaturen – führt unausweichlich zu ökonomischen Verlusten, Ineffizienz und schließlich zu politischen Unruhen. Das stimmt auch in Fällen wie Venezuela, wo hohe Öleinnahmen die zugrunde liegenden Schwächen für eine Weile verschleiert haben. In der komplexen globalen Wirtschaft des 21. Jahrhunderts, erfordert eine anhaltende gute wirtschaftliche Entwicklung eine ganze Palette gut funktionierender Institutionen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich eines Einzelnen fallen.
Deutschland Stärke ist seine Kompromissfähigkeit
Zum Beispiel erfordern erfolgreiche Volkswirtschaften eine vernünftige unabhängige Zentralbank und eine kompetente Bankenaufsicht, die nicht in die kurzfristige Politik hineingezogen werden dürfen. Erfolgreiche Volkswirtschaften brauchen auch Regulierungsbehörden für Sektoren wie Telekommunikation und Energie, die eine Politik in Übereinstimmung mit den übergeordneten politischen Vorgaben verfolgen können. Allerdings sollten ihre Spitzenvertreter nach überparteilichen Kriterien ausgewählt werden und ihre Autorität in einer Weise ausüben können, den Wettbewerb für alle fördert.
Wenn sich Kreditentscheidungen, öffentliche Aufträge, Bauaufträge und Preisermittlung nur nach kurzfristigen und rein politischen Ziele richten, ist eine gute wirtschaftliche Entwicklung unmöglich - selbst in Ländern mit großen natürlichen Ressourcen. In Ländern mit wenig oder gar keinen dieser Ressourcen - wo Innovation, wettbewerbsfähige Effizienz und die Konzentration auf die Produktion statt auf die Renten umso wichtiger sind – wird der Mangel an guter Regierungsführung noch schneller zum Scheitern führen.
All das bedeutet, dass die Analyse der Determinanten für den wirtschaftlichen Erfolg nicht nur ein Thema für Ökonomen ist. Warum schaffen einige Gesellschaften die notwendigen Kompromisse zur Aufrechterhaltung einer unabhängige Justiz und eines modernes Regelwerks – beides unabdingbar für eine effiziente moderne Wirtschaft - während sich bei anderen ein parteilicher, Winner-take-all-Ansatz bei der Regierungsführung verfestigt hat, der die öffentliche Politik schwächt und das Vertrauen des Privatsektors untergräbt?
Der Kontrast ist am deutlichsten in den Schwellenländern, aber Unterschiede gibt es auch zwischen Industrieländern. Vielleicht ist Deutschlands Fähigkeit zu gesellschaftspolitischen Kompromissen – die sich wieder am Beispiel der Bildung einer Rechts-Links-Koalition nach den Wahlen 2013 zeigte – ein größerer Grund für seine jüngsten wirtschaftlichen Erfolge als die Details der Finanz- und Strukturpolitik, die sie versucht zu erreichen.
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