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Türkei Erdogans Kampf mit den Finanzmärkten

Der türkische Präsident Erdogan will eine erweiterte Zollunion mit der EU, aber die stellt sich quer.
Der türkische Präsident Erdogan will eine erweiterte Zollunion mit der EU, aber die stellt sich quer.
© dpa
Lange hat er sich quer gelegt, dann gab der türkische Präsident Erdogan seinen Widerstand gegen eine Zinserhöhung auf. Investoren sind trotzdem alarmiert: Sie fürchten, dass Erdogan die Wirtschaft stärker kontrollieren will

Wer ist die einzige wirkliche Opposition in der Türkei? Antwort: die Lira. So geht ein Witz, den türkische Ökonomen gerne erzählen. Mit Sicherheit ist die Lira ein mächtiger Gegenspieler. Am Mittwoch vergangener Woche musste Präsident Recep Tayyip Erdogan seinen wochenlangen Widerstand gegen Maßnahmen zur Stützung der abdriftenden Währung aufgeben. Er unterwarf sich dem Druck der Finanzmärkte und erlaubte der Zentralbank eine Anhebung der Zinssätze. Die Lira hat seit Jahresbeginn 20 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren.

Der Witz führt jedoch etwas in die Irre. Während Erdogan im Ausland als starker Mann oder sogar als Diktator gilt, verlässt er sich im Inland immer noch auf Wahlsiege, um seinen autokratischen Herrschaftsstil zu leigitimieren. Das Chaos der letzten Wochen entfaltet sich vor dem Hintergrund der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni. Ein Sieg könnte für Erdogan den Weg ebnen für weitere lange Jahre an der Macht. Er käme seinem Traum näher, der wichtigste Führer der modernen Türkei seit ihrem Gründer Mustafa Kemal Atatürk zu werden.

Das erklärt, warum der türkische Präsident so verbissen wie nie gegen eine Zinserhöhung ankämpfte, die notwendig war, um die Inflation zu dämpfen und die Lira zu stützen - was aber zugleich Hypotheken und Kredite wenige Wochen vor der Wahl verteuert.

Erdogans Einmischung verunsichert Investoren

Der volatile Mix aus Wahlkampfpopulismus und einem steigenden Dollar hat das Land an den Rand einer Währungskrise geführt. An der Spitze steht ein vom Wachstum besessener Führer, der in höheren Zinsen einen Weg sieht, „die Reichen reicher und die Armen ärmer“ zu machen. Mit der Zentralbank des Landes liegt er deswegen oft über Kreuz. Vor seiner Einwilligung zur Anhebung der Zinsen, hatte Erdogan behauptet, dass sich „Feinde der Türkei“ hinter Währungsspekulanten und der so genannten „Zinslobby“ versteckten.

Auch wenn das Rückzugsgefecht zur Stabilisierung der Währung ausreicht, hat Erdogans riskantes Spiel mit den für die Finanzpolitik Verantwortlichen einige Investoren verunsichert. Sie fürchten dass die Wirtschaft der Türkei, die in den letzten zehn Jahren zumeist stark gewachsen ist, durch die Einmischung des Präsidenten in das Management der Geldpolitik dauerhaft geschädigt wird.

Société Générale-Strategin Phoenix Kalen warnt, dass die Türkei ohne einen Richtungswechsel der politischen Führung wahrscheinlich in einem „wiederkehrenden Albtraum“ gefangen bleiben werde. „Wir glauben, dass ein Sieg der Opposition bei der Präsidentenwahl eine Rally bei der Lira auslösen würde.“

Der Ausgangspunkt der dramatischen Woche lässt sich bis zum 18. April zurückverfolgen, als Erdogan sein Land mit der Ankündigung überraschte, die Wahlen um fast eineinhalb Jahre vorzuziehen. Mit ein paar blutroten türkischen Flaggen im Hintergrund erklärte der Präsident, dass die Turbulenzen in den Nachbarländern Syrien und Irak es erforderlich machten, das Land so schnell wie möglich auf das neue Präsidialsystem umzustellen, das nach der Abstimmung in Kraft treten wird. Die Position des Premierministers wird dann abgeschafft und die Befugnisse des Präsidenten radikal gestärkt.

Wirtschaft droht Überhitzung

Hinter vorgehaltener Hand räumten Mitglieder der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) ein, dass ihnen eine Wahlniederlage drohen würde, wenn sie bis zum regulären Wahltermin im November 2019 gewartet hätten. Im Laufe von 15 Jahren an der Macht hat die Partei das Gefüge der Nation verändert, das alte säkulare Establishment herausgefordert und einem konservativen Segment der Gesellschaft zu beispiellosem Wohlstand verholfen.

Aber die einst solide Wählerbasis der Partei bröckelt an den Rändern. Gruppen, die früher Erdogan unterstützten, haben sich aufgelöst, der einen Herrschaftsstil verfolgt, der die Gesellschaft immer stärker spaltet. Gegner werden inhaftiert und Kritiker beschimpft er als „Verräter“. Einige Umfragen deuten darauf hin, dass die Partei ihre parlamentarische Mehrheit verlieren könnte und Erdogan droht eine Stichwahl um das Präsidentenamt.

Zugleich sieht sich die Türkei mit zunehmenden Warnungen über die Stabilität der Wirtschaft konfrontiert, auf die bislang die Unterstützung der AKP gründet. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug im vergangenen Jahr 7,4 Prozent. Allerdings sorgen die staatlichen Impulse, die das Land nach dem Putschversuch vom Juli 2016 aus dem Tief führten, für zweistellige Inflationsraten und ein hohes Leistungsbilanzdefizit. Angeführt vom IWF werden daher die Rufe nach einer Abkühlungsphase und Neuausrichtung lauter.

Quelle: tradingeconomics.com

Die Märkte haben sich nach Bekanntwerden der Blitzumfragen zunächst erholt. Sie wurden durch die Entscheidung der Zentralbank eine Woche später, die Zinssätze um 75 Basispunkte anzuheben, weiter beflügelt. Investoren gingen ursprünglich davon aus, dass nach einem raschen Sieg Erdogans eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik und längst überfällige Reformen wie die Verringerung der Abhängigkeit von Energieimporten folgen würden. Und sie setzten darauf, dass der kurze Wahlkampf den Bedarf an großzügigen Versprechungen minimieren würde.

Teure Wahlversprechen

Aber Premierminister Binali Yildirim hat sie schnell eines anderen belehrt, als er eine Flut von Präsenten im Wert von 24 Mrd. Lira (5,1 Mrd. Dollar) ankündigte, darunter zwei Bonuszahlungen für die zwölf Millionen Rentner des Landes. Die AKP machte sich Sorgen über ihre Umfragewerte und über eine geschickt operierende Opposition, die ihre Chancen gegen Erdogan verbessern will.

Viele Investoren nahmen nun Warnzeichen wahr. Die Ausgabenversprechen gefährdeten nicht nur den Ruf der AKP als Partei der Haushaltsdisziplin, sondern sie würden die Wirtschaft in einer Zeit anzukurbeln, in der sie bereits vor der Überhitzung steht. Nach Ansicht von Atilla Yesilada, Analyst des Beratungsunternehmens Global Source Partners, steckt die Regierungspartei in einer Falle. „Sie müssen die Wähler füttern“, sagt er. „Aber jeder Schritt, den sie unternehmen, um das türkische Publikum zu ernähren, verschreckt ausländische Investoren.“

An einem klaren Sonntagmorgen vor zwei Wochen landete der Privatjet des türkischen Präsidenten bei der RAF Brize Norton in Oxfordshire. Bei einem dreitägigen Besuch in Großbritannien mit Terminen bei der Queen und Premierministerin Theresa May wollte er sich dem Publikum zu Hause als Staatsmann präsentieren. Stattdessen verschreckte er die Londoner City. Bei einem Vortrag in einer Denkfabrik, einem Mittagessen mit Investoren und einem Bloomberg-Interview hielt er Vorträge und vertrat die Auffassung, dass hohe Zinsen die Inflation eher verursachten als bremsten. Und er kündigte eine striktere Kontrolle der Wirtschaftspolitik nach der Wahl an. Seine Bemerkungen brachten die Lira noch stärker unter Druck und strapazierten den Unternehmenssektor, der mit 295 Mrd. Dollar an Fremdwährungsschulden belastet ist, deren Rückzahlung nun immer teurer wird. Vor zehn Jahren war 1 Dollar 1,2 Lire wert: Mitte Mai waren es etwa 4,5 Lire.

source: tradingeconomics.com

Dennoch widersetzte sich Erdogan einer Zinserhöhung. Laut türkischen Offizielle hört der Präsident nicht mehr auf sein Wirtschaftsteam. Die Fachleute würden von Erdogan loyal ergebenen Gefolgsleute übertönt, denen er in den letzten Jahren näher gekommen sei, als Massenproteste, Korruptionsvorwürfe und ein Putschversuch seine Paranoia schürten.

Erdogan hat schon in den vergangenen Jahren Terroranschläge und scharfe Auseinandersetzungen mit westlichen Verbündeten für Wahlkampfzwecke genutzt. Diesmal wettet er, dass seine Anhänger die Verschwörungstheorie glauben, wonach die Währung von einer Gruppe finsterer ausländischer Akteure angegriffen wird. Die Lira schwächte sich immer weiter ab. Am Dienstag, nach dem eine Warnung der Ratingagentur Fitch noch mehr Druck auf die Währung ausgeübt hatte, begannen die Türken, Gerüchte über bevorstehende Kapitalkontrollen zu glauben. Sie kauften eilig Gold.

Erdogan lenkt ein

Auf Twitter, einem der wenigen verbliebenen Plätze für freie Meinungsäußerung, verspottete ein User die türkische Führung mit einem Video, in dem eine Frau versucht, das Meer mit einem Besen zurückzufegen. Cumhuriyet, eine kleine, aber kämpferische Oppositionszeitung, brachte einen Cartoon mit einem neugeborenen Baby, das gefragt wird, warum es vorzeitig zur Welt gekommen ist. „Ich habe keine Wahl“, antwortet das Baby. „Die Krankenhausrechnung ist auf Dollar ausgestellt!“

Am Mittwoch schien sich die Krise zu verschärfen: Die türkische Währung verlor an einem Tag fünf Prozent. Gegen 19.30 Uhr erhöhte die Zentralbank ihren Leitzins von 13,5 auf 16,5 Prozent. Die Lira erholte sich zunächst stark, bevor sie wieder schwächer wurde. Am Freitagnachmittag hatte sich der Kurs bei etwa 4,7 Lire zum Dollar stabilisiert - ein Minus von 17 Prozent seit der Ankündigung der Wahlen im April.

Der Präsident hatte nach einem heftigen Kampf hinter den Kulissen unter anderem mit Yildirim, dem stellvertretenden Premierminister Mehmet Simsek (einem ehemaligen Merrill Lynch-Banker) und dem Zentralbankgouverneur Murat Cetinkaya endlich nachgegeben. „Schließlich hat die Bank gezeigt, dass sie handlungsfähig ist“, sagt ein hoher Beamter.

„Wirtschaft und Politik brauchen Normalität“
Tuncay Ozilhan

Später am Abend warnte Erdogan, dass die Türkei „nicht zulassen wird, dass die Prinzipien der Global Governance unser Land auslöschen“. Aber er versprach auch, „sich an die Prinzipien der Global Governance in der Geldpolitik zu halten“. Noch nie stand er so kurz vor einem mea culpa.

Trotz eines starken Wahlkampfs der energisch auftretenden Opposition bleibt der türkische Präsident Favorit für die Wahl im nächsten Monat. Er hat alle Mittel der Staatsmacht zu seiner Verfügung. Und Kritiker behaupten, dass er alles für einen Sieg tun werde – einschließlich einer Manipulation der Abstimmung. Einige Beobachter argumentieren, wenn Erdogan die Wahl gewinnt, könnte er den Kurs ändern und versuchen, die Wirtschaft abzukühlen. Doch mit den schwierigen Kommunalwahlen im März 2019 bleibt es bei der Versuchung, noch mehr Geschenke zu verteilen und das Wachstum weiter anzukurbeln.

Tusiad, einer der freimütigsten Wirtschaftsverbände der Türkei, plädierte diese Woche für ein Ende des unerbittlichen Zyklus. „Wir haben seit 2007 durchschnittlich alle zwölf Monate eine Wahl gehabt und sind erschöpft“, sagte der Tusiad-Beiratsvorsitzende Tuncay Ozilhan am Donnerstag. „Wirtschaft und Politik brauchen Normalität.“

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