Am 4. Februar 1920 erließ der Reichstag das Betriebsrätegesetz . In Deutschland war die betriebliche Mitbestimmung geboren. Die Mitsprache von Arbeitnehmern in Unternehmen ist zwar kein deutscher Sonderweg geblieben, allerdings blickt man insbesondere im angelsächsischen Raum häufig mit einem hohen Maß an Skepsis auf diese Regelungen. So muss ich Freunden im Ausland zuweilen länger erklären, was ich als Betriebsrat eigentlich beruflich mache. Oft kommt es ihnen vor wie die Erzählung aus einer anderen Welt, wenn ich von meinem Entschluss berichte, als Chefvolkswirt für den Betriebsrat zu kandidieren. Auch in Deutschland wird ein solches Engagement von manchen mit Stirnrunzeln quittiert bis hin zum Verdacht des Seitenwechsels. Doch die Mehrheit empfindet es hierzulande als etwas sehr Positives.
Dabei gibt es auch aus der liberalen ökonomischen Theorie gute Gründe für die Mitsprache der Arbeitnehmer im Betrieb. Zu nennen ist hier etwa Friedrich August von Hayeks Erkenntnis, dass Wissen stets dezentral und flüchtig ist. Daraus leitet sich nicht nur die Ineffizienz, ja vielleicht sogar Unmöglichkeit zentralistischer gesamtwirtschaftlicher Planung ab, sondern das gilt auch für die Unternehmenssteuerung. Die Mitarbeiter wissen oft besser, wo in einem Prozess „der Schuh drückt“, als die Unternehmensleitung. Ebenso ist seit Albert O. Hirschmans Untersuchung „Exit, Voice and Loyalty“ aus dem Jahr 1970 bekannt, dass Organisationen weit besser funktionieren, wenn man den Beschäftigten und Kunden (neudeutsch Stakeholder) die Möglichkeit gibt, ihre Beschwerden, Wünsche und Verbesserungsvorschläge zu artikulieren.
Betriebsrat in Mittlerfunktion
In ihrer besten und vielleicht sogar einfachsten Form kann Mitbestimmung einen wesentlichen Beitrag dazu liefern, die Wünsche und Bedürfnisse der Belegschaft im Rahmen der gesetzlich geforderten vertrauensvollen Zusammenarbeit an das Management zu transportieren. Und im zweiten Schritt sinnvolle Lösungen für das gesamte Unternehmen zu finden. Der Betriebsrat ist hier im besten Sinne in einer Mittlerfunktion. Ein gut geführtes Unternehmen sollte aus eigenem Interesse zahlreiche Instrumente wie Mitarbeiterbefragungen oder kontinuierliche Verbesserungsprozesse einsetzen und die entsprechenden Signale entsprechend aufnehmen und umsetzen.
Nun stellt sich natürlich die Frage, weshalb es eine gesetzliche Verankerung eines Betriebsrats mit Informations-, Anhörungs- und Vetorechten braucht, wenn es doch eigentlich im ureigenen Interesse eines Unternehmens liegen sollte. Tatsächlich kennen auch viele Unternehmen im angelsächsischen Raum oder Familienbetriebe Mitarbeiterbeiräte. Wenn auch ohne die gesetzlich garantierten Mitbestimmungsrechte des deutschen Betriebsverfassungsrechts.
Der Grund hierfür liegt darin, dass ein Betriebsrat natürlich auch ein Stück weit Machtbegrenzung für das Management bedeutet. Das Gedankenkonstrukt einer Interessenkongruenz zwischen etwa einem Firmenpatriarchen und der Belegschaft mag es zwar geben – ich habe so etwas auch in meiner ersten Anstellung nach der Universität kennenlernen dürfen. Allerdings darf man es nicht zur Regel verklären oder als Selbstverständlichkeit erwarten. Denn natürlich geht es in einem Arbeitsverhältnis stets auch um Macht. Und um Lord Acton zu zitieren: „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert vollständig“.
Mitbestimmung unter Anpassungszwang
Das muss nicht einmal zwingend in böser Absicht geschehen. Der Ökonom John K. Galbraith bezeichnet es als „unschuldigen Betrug“. Jürgen Habermas spricht von „interessengeleiteter Erkenntnis“ – die ganz menschliche Tendenz, die Welt durch das Auge des eigenen Wollens zu betrachten. Im schlimmsten Fall wird es zum Cäsarenwahn. In diesem Sinne zwingt die gesetzlich geregelte Mitbestimmung mindestens dazu, sich mit einem anderen Standpunkt auseinandersetzen zu müssen. Und das ist auch gut so. Kontrolle ist nicht nur freiwillig, sondern muss im Zweifelsfall Zähne haben.
Das Modell der deutschen Mitbestimmung ist sicherlich nicht immer einfach. In der gut gelebten Praxis hebt es wesentlich die Produktivität. Und in einer eher negativen Praxis verhindert es Auswüchse des Managements. Natürlich muss sich auch die Mitbestimmung an die jeweiligen Zeiten anpassen. So trägt die Reform aus dem Jahr 2001 den deutlich flexibleren Formen der Arbeitsorganisation Rechnung, Stichwort Gemeinschaftsbetriebe.
Aktuell erfolgen Anpassungen an erweiterte Formen der digitalen Zusammenarbeit. Dazu zählt etwa die starre Vorschrift, dass Beschlussfassungen nur in physischer Präsenz möglich sind, statt über Video-Konferenz oder im Umlaufverfahren. Das gilt auch und gerade für die standortübergreifende Einführung von IT-Systemen. Wahlverfahren ließen sich heute wohl über ein gesichertes elektronisches System organisieren statt über die klassische Wahlurne, verbunden mit langen Anfahrtswegen der jeweiligen Betriebsräte.
Vieles ist in Bewegung und es gibt noch viel zu tun. Aber im Kern ist die betriebliche Mitbestimmung ein Erfolgsmodell - seit 100 Jahren.