Wenn sich alle einig sind, ist meist ein guter Moment, um noch mal nachzudenken. Heute zum Beispiel, einen Tag nach der Entscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB). Von wenigen Ausnahmen abgesehen steht die öffentliche Meinung in Deutschland so fest wie einst die D-Mark: Der großangelegte Aufkauf von Staatsanleihen und sonstigen Wertpapieren durch die EZB ist wahlweise „eine Umverteilung von unten nach oben“ (Die Linke), ein Bruch der Verfassung (die CSU) oder eine Enteignung der Sparer (Versicherer und Banken).
Gewiss gibt es gute Gründe, an den Erfolgsaussichten von Mario Draghis Einkaufstour zu zweifeln. Doch zugleich offenbaren die Kritiker immer wieder drei fundamentale Missverständnisse darüber, wie unsere Wirtschaft funktioniert.
Das erste Missverständnis hat mit der Rolle von Schulden zu tun. Das zweite mit dem Verständnis von Haftung. Das dritte Missverständnis ist der Glaube, jede wirtschaftliche Folge lasse sich per Gesetz abwenden.
Missverständnis I: Schulden sind böse
Es stimmt: Die aktuelle Wirtschaftskrise in Europa und die Malaise des Euro geht auf eine überbordende Verschuldung zurück. Griechenland etwa lebte rund um die Jahrtausendwende weit über seine Verhältnisse, Iren und Spanier verschuldeten sich lieber privat und kauften Wohnungen für Phantasiepreise. Egal ob staatlich oder privat, die Schulden waren ein Problem, weil die Werte, die für das viele Geld geschaffen worden waren, irgendwann an Wert verloren. Sie waren nur nicht der einzige Grund der Krise.
Denn auf der anderen Seite der vielen Schulden standen renditehungrige Sparer, zum Beispiel in Deutschland. Auch wenn sie nicht direkt in Hotels und Flughäfen in Spanien investierten, so taten es doch ihre Versicherungen und Investmentfonds. Und ihre Kunden freuten sich über die jährlichen Gewinnausschüttungen.
Dies ist bis heute das erste Missverständnis über die Krise: Schulden sind böse. Dabei haben Schulden nichts mit Moral zu tun. Die Kredite der anderen sind unsere Geldanlage. Wer höhere Zinsen will, braucht andere Leute, die Geld ausgeben, investieren und sich dafür sogar verschulden.
Nicht nur Banken und Versicherungen, auch die Bundesregierung ignoriert den Zusammenhang von Kreditnachfrage und Zinsen bis heute hartnäckig. Man sollte sie deshalb aber nicht für dumm halten – das Schimpfen auf andere wie die EZB ist einfach bequemer.
Missverständnis II: Wir haften nicht
Natürlich ist es ein Unterschied, ob ein leichtsinniger Kleinsparer sein Geld in Griechenland, Spanien oder wie vor gut zehn Jahren in Argentinien verliert, nachdem er dort auf höhere Zinsen gehofft hatte – oder ob alle einspringen sollen, wenn einer seinen Kredit nicht mehr bedient. Die Forderung, Steuerzahler sollten vor den Verlusten von Spekulanten geschützt werden, ist daher durchaus nachvollziehbar.
Nur wenn alle Sparer (oder deren Banken, Versicherungen oder Arbeitgeber) ihr Geld irgendwie in Spanien, Italien, Griechenland oder Irland stecken haben, dann hängt jeder mit drin. Egal, ob professioneller Anleger oder einfacher Arbeiter bei VW. Egal, ob Deutschland die D-Mark hat und Griechenland die Drachme oder alle den Euro. Wer glaubt, eine eingeschränkte Haftung schütze vor empfindlichen Verlusten, der irrt.
Der Kauf von Staatsanleihen und anderen Wertpapieren durch die EZB und die nationalen Notenbanken nimmt Banken, Versicherungen, Unternehmen und allen anderen Anlegern tatsächlich individuelle Risiken ab und kollektiviert die Haftung.
Aber wer Geschäfte macht, dafür anderen Geld leiht und dabei auf Gewinn hofft, riskiert immer, dass das Geschäft schiefgeht und das Geld weg ist. Und wir Deutsche aber haben wirklich gute Geschäfte gemacht. Da muss man nur mal nachfragen bei Volkswagen, BMW, Audi oder den deutschen Maschinenbauern.
Missverständnis III: Das Recht beschützt uns
Nirgendwo sonst in Europa werden die rechtlichen Dimensionen der Euro-Politik so akribisch diskutiert wie in Deutschland. Das ist einerseits richtig und verständlich, denn schließlich trägt Deutschland die größte Last. Und doch hält sich der Fluss des Geldes nicht an Verfassungsgrundsätze. Wenn Investoren an der Stabilität einer Währung zweifeln, lässt sich dieser Zweifel nicht durch Artikel und Urteile zerstreuen. Ziehen sie ihr Geld ab, ist das ihre freie Entscheidung – kein Richter wird sie aufhalten können. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass ausgerechnet einige Verfassungsjuristen – in der womöglich besten Absicht, den Euro stabiler zu machen – damit an seiner weiteren Destabilisierung arbeiten.
Die Folgen
Das alles wäre halb so wild, wenn diese Missverständnisse nicht Folgen hätten bis zum gestrigen Tag. Zeitgleich zum Auftritt Draghis mahnte die deutsche Kanzlerin in Davos, die Einkaufstour der Zentralbank ja nicht misszuverstehen als Einladung an die Staaten der Eurozone, jetzt mal ordentlich Geld auszugeben. Für Griechenland und Italien mag das sogar stimmen, aber was ist mit dem Rest der Euro-Zone, was ist mit Deutschland?
Das sklerotische Verhältnis der Deutschen zu Schulden, Krediten und Investitionen treibt selbst den EZB-Präsidenten zu einer hilflosen Begründung seiner Geldpolitik. Umständlich sprach er am Donnerstag die ganze Zeit davon, das zusätzliche Geld der EZB werde Kredite noch attraktiver und billiger machen.Dabei ist das nun wirklich nicht das Problem in der Eurozone. Kredite sind bereits fast kostenlos, sie werden kaum noch billiger werden. Nicht das Angebot an Krediten ist in den meisten Staaten ein Problem, sondern die Nachfrage: Konsum und Investitionen sind viel zu niedrig, auch in Deutschland. Erst wenn sie wieder steigen, wenn Menschen, Unternehmen und öffentliche Institutionen wieder Kredite aufnehmen und Geld ausgeben, werden auch die Zinsen wieder steigen. Ob Draghis Kaufprogramm diese Effekte hat, ist tatsächlich höchst ungewiss.
Doch statt darüber zu streiten, wie wir in Deutschland und Europa mehr Investitionen hinbekommen und ob es sich dafür nicht auch lohnen könnte, Steuern zu senken und/oder neue öffentliche Schulden zu machen, verstricken wir halb Europa in eine verschrobene Diskussion darüber, wer für die ganzen aufgekauften Anleihen haftet und wie wir diese Haftung für uns begrenzen können. Als ob wir selig weiter wirtschaften könnten, wenn Spanier, Italiener oder Franzosen mit ihren Schulden schön alleine untergehen. So kommen wir nicht aus dem Knick.