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Kommentar Die trügerische atomare Sicherheit

Stünde die Ukraine besser da, wenn sie ihre Atomwaffen behalten hätte? Solche Argumente sind unsinnig. Vorn Gareth Evans

Einer weitverbreiteten Ansicht zufolge würde die Ukraine nicht in solchen Schwierigkeiten stecken, wenn sie ihr nukleares Waffenarsenal nach dem Ende des Kalten Kriegs behalten hätte. Dieser Gedanke hat gefährliche politische Implikationen und kann nicht unwidersprochen bleiben.

Trotz seiner oberflächlichen Plausibilität hält das Argument einer Überprüfung der vorliegenden Erkenntnisse über das Verhalten von Staaten nicht stand. Atomwaffen sind einfach nicht das effektive Abschreckungsmittel, für das sie viele Menschen halten, egal ob es um die Abschreckung eines Krieges zwischen zwei großen Atommächten oder den Schutz eines schwächeren Staates gegen einen konventionellen Angriff geht.

Gareth Evans, australischer Außenminister 1988 bis 1996
Gareth Evans, australischer Außenminister 1988 bis 1996

Die These, das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion habe den Frieden während des Kalten Krieges bewahrt - und seitdem andere potenzielle Kriegsparteien (einschließlich Indien und Pakistan, Indien und China sowie China und die USA) zurückgehalten - ist nicht annähernd so stark, wie sie scheint. Es gibt keine Beweise dafür, dass zu irgendeiner Phase des Kalten Krieges die Sowjetunion oder die USA einen Krieg anzetteln wollten und daran nur durch die Existenz von Kernwaffen der anderen Seite gehindert wurde.

Wir wissen, dass Kenntnisse über den Besitz von höchst zerstörerischen Waffen eines Gegners (wie bei chemischen und biologischen Waffen vor 1939) einen Krieg zwischen den Großmächten in der Vergangenheit nicht gestoppt haben. Auch haben Erfahrungen mit oder Aussichten auf massive Zerstörungen von Städten und zivilen Todesopfern die politischen Verantwortlichen nicht zurückgehalten - auch nach der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki nicht. Es gibt jetzt klare historische Beweise dafür, dass der entscheidende Faktor für Japans Bitte um Frieden nicht die Atomangriffe waren, sondern die Kriegserklärung der Sowjetunion noch in der gleichen Woche.

Keine glaubwürdige Abschreckung

Aber wenn Atomwaffen keine Garantie für den langen Frieden seit 1945 waren, was war es dann? Eine plausible alternative Erklärung ist schlicht, dass den Großmächten nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs (und angesichts all der folgenden rasanten technologischen Fortschritte) klar war, dass der durch einen Krieg verursachte Schaden so unglaublich schrecklich wäre, dass er jeden denkbaren Nutzen überwogen hätte.

Was ist mit der Vorstellung, die relevant ist für die heutige Ukraine, dass Atomwaffen ein strategischer Ausgleich sind - notwendig für die Kompensation minderwertiger konventioneller Streitkräfte und Fähigkeiten? Nordkorea glaubt sicherlich, dass der Besitz auch einer sehr kleinen Zahl von Kernwaffen eine Abschreckung gegen einen gewaltsamen Regimewechsel darstellt, wobei die Erfahrungen Serbiens im Jahr 1999, Iraks 2003 und Libyens 2011 zweifellos die Wahrnehmung verstärkt haben, dass Staaten ohne solche Waffen besonders gefährdet sind.

Aber Waffen, deren Einsatz offensichtlich selbstmörderisch wäre, sind letztlich keine sehr glaubwürdige Abschreckung. Sie werden die Art von Abenteurertum - wie jetzt in der Ukraine zu sehen - nicht beenden, weil die mit ihrem bewussten Einsatz verbundenen Risiken einfach zu groß sind. Der russische Präsident Wladimir Putin weiß, dass wegen der Entsendung von Panzern auf die Krim oder sogar nach Dnjepropretowsk ein atomarer Angriff auf Moskau durch die Ukraine oder die USA unwahrscheinlich ist.

Militärischer Nutzen gleich null

Atomwaffen sind nicht die Stabilitätswerkzeuge für die sie gemeinhin angesehen werden. Vielleicht liegt es am Ausmaß der Zerstörungskraft von Nuklearwaffen, die ihren praktischen militärischen Einsatz unter jeden nur denkbaren Umständen unvorstellbar macht. Vielleicht ist es nur das wohlverstandene ethische Tabu, das auch US-Außenminister John Foster Dulles zurückschrecken ließ: Hätten die USA Atomwaffen in Korea, Vietnam oder gegen China im Streit um Taiwan eingesetzt, „wir würden im Angesicht der heutigen Weltöffentlichkeit erledigt sein“.

Aus den unterschiedlichsten Gründen gab es regelmäßig Konflikte, bei denen Atomwaffen eine Rolle hätten spielen können, es aber nicht taten. Denken wir an die lange Liste der Kriege, wo Nicht-Atommächte entweder Atommächte direkt angegriffen haben oder wo die Aussicht auf eine nukleare Intervention sie nicht abgeschreckt haben: Korea, Vietnam, Jom Kippur, Falkland-Inseln, die beiden Kriege in Afghanistan seit 1970 und der erste Golf-Krieg.

Dann gibt es Fälle, bei denen der Besitz von Atomwaffen, statt als Bremse zu wirken, einer Seite die Möglichkeit eröffnete, begrenzte militärische Aktionen ohne ernsthafte Angst vor einer nuklearen Vergeltung zu starten, weil der Einsatz für eine solche Antwort einfach zu groß war. Denken Sie an den Kargil-Krieg zwischen Pakistan und Indien im Jahr 1999.

Es gibt erhebliche quantitative als auch anekdotische Beweise die das unterstützen, was in der Literatur als "Stabilität-Instabilität-Paradox" bekannt ist - die Vorstellung, dass das, was scheinbar eine stabile nukleare Balance darstellt, in Wirklichkeit mehr Gewalt fördert. Die alte konservative Linie lautet, dass „das das Fehlen von Kernwaffen hieße, die Welt sicherer für konventionelle Kriege zu machen“. Aber es ist plausibler anzunehmen, dass es das Vorhandensein von Atomwaffen ist, dass derartige Kriege wahrscheinlicher gemacht hat.

Enormes Gefahrenpotenzial

Es gibt eine Sache, die die Präsenz ukrainischer Atomwaffen der heutigen Gemengelage hinzugefügt hätte: ein weiteres riesiges Gefahrenpotenzial wegen des Risiken durch Unfälle, Fehleinschätzungen, Systemfehler oder Sabotage in eine Katastrophe zu stolpern. Sogar echte Freunde der nuklearen Abschreckung müssen zugeben, dass das schon immer eine äußerst wacklige Basis für die Bewahrung des Friedens war.

Es darf nicht einfach vorausgesetzt werden, dass unter dem enormen Stress während einer Krise ruhige, überlegte Rationalität herrscht. Und man darf sicherlich nicht davon ausgehen, dass es niemals menschliche oder technische Fehler geben wird, die einen harmlosen Vorgang als Bedrohung einstufen (so wie 1995, als dem russischen Präsidenten Boris Jeltsin geraten wurde, sofort mit Vergeltung auf eine anfliegende Nato-Rakete zu reagieren, die sich als norwegische Forschungsrakete herausstellte).

Es gibt auch das große Risiko von fehlerhafter Kommunikation (das heute durch die Raffinesse von Cyberwaffen noch verschärft wird) und grundlegenden Systemfehlern. In den Archiven aus der Zeit des Kalten Kriegs finden sich viele Hinweise, wie nah die Welt regelmäßig am Abgrund stand – viel häufiger als zu der damaligen Zeit bekannt. Und die wiederkehrenden Berichte über Sicherheitsfehler und akute Probleme auf US-Raketenstützpunkten verstärken die Bedenken noch.

Atomwaffen-Enthusiasten scheinen einen unerschöpflichen Appetit auf falsche Argumente zu haben. Nichts, was wir im Zusammenhang mit der Ukraine gehört haben deutet darauf hin, dass sich ihre Bilanz verbessert.

Copyright: Project Syndicate

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