Robert Skidelsky ist Mitglied des britischen Oberhauses und emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Warwick.
Bis vor ein paar Jahren erklärten Ökonomen aller Richtungen voller Überzeugung, so etwas wie die Große Depression würde es nie wieder geben. In gewisser Weise hatten sie recht. Nach dem Ausbruch der Finanzkrise von 2008 bekamen wir statt dessen die Große Rezession. Die Regierungen konnten den Schaden begrenzen, indem sie enorme Mengen von Geld in die Weltwirtschaft pumpten und die Zinssätze beinahe auf Null senkten. Damit haben sie zwar den Abwärtstrend von 2008-2009 bezwungen, aber jetzt geht ihnen die intellektuelle und politische Munition aus.
Wirtschaftsberater versicherten ihren Chefs, die Erholung werde schnell kommen. Und eine gewisse Erholung fand tatsächlich statt, aber bereits 2010 kam sie ins Stocken. In der Zwischenzeit bauten die Staaten als Reaktion auf den Wirtschaftsabschwung enorme Defizite auf. Der Plan war, dass diese bei erneutem Wachstum wieder abgebaut werden könnten. In der Eurozone gerieten Länder wie Griechenland in Staatsschuldenkrisen, und durch Bankenrettungen wurden private Schulden in öffentliche Schulden verwandelt.
Die Aufmerksamkeit richtete sich immer mehr auf das Problem der Haushaltsdefizite und die Beziehung zwischen Defiziten und Wirtschaftswachstum. Sollten Staaten ihre Defizite absichtlich vergrößern, um die abnehmende Haushalts- und Investitionsnachfrage auszugleichen? Oder sollten sie die öffentlichen Ausgaben kürzen, um Geld für private Ausgaben zur Verfügung zu stellen?
Eine Frage des Blickwinkels
Je nachdem, welche makroökonomische Theorie favorisiert wurde, konnten beide Ansätze als wachstumsfördernd präsentiert werden. Der erste kann zu einer Wirtschaftsexpansion führen, weil die Regierung die öffentlichen Ausgaben erhöht, und der zweite, weil sie sie senkt. Die keynesianische Theorie schlägt den ersten vor, aber die Regierungen setzten ihr Vertrauen einstimmig in den zweiten.
Die Folgen dieser Entscheidung sind offensichtlich. Heute ist man sich weitgehend einig, dass die fiskale Verengung die Industrieländer seit 2010 zwischen 5 und 10 Prozentpunkte BIP-Wachstum gekostet hat. Produktion und Einkommen in diesem Umfang sind dauerhaft verloren. Darüber hinaus wurde die Aufgabe der Verringerung der Haushaltsdefizite und Staatsschulden im Verhältnis zum BIP durch diese Wachstumsbremse stark erschwert. Wie sich herausstellte, war die Kürzung der öffentlichen Ausgaben nicht gleichbedeutend mit der Senkung des Defizits, da gleichzeitig die Wirtschaft behindert wurde.
Damit sollte die Diskussion eigentlich beendet gewesen sein. Das war sie aber nicht. Einige Ökonomen behaupten, die Regierungen hätten sich 2010 zwischen zwei Risiken entscheiden müssen: Die Senkung des Defizits hätte das Wachstum verlangsamen können, aber es nicht zu senken, hätte die Lage noch verschlimmern können.
Fiskale Täuschung
Die keynesianische Kur, hieß es, habe den Effekt der Haushaltspolitik auf die Erwartungen ignoriert. Ist die Öffentlichkeit davon überzeugt, dass es richtig sei, das Defizit zu verringern, könnte ein wachsendes Defizit die erhofften stimulierenden Effekte zunichte machen. In Erwartung von Steuererhöhungen zur „Bezahlung“ der zusätzlichen Ausgaben würden Haushalte und Unternehmen ihre Sparquote erhöhen. Aus Angst vor Staatspleiten würden die Anleihemärkte die Regierungen mit höheren Zinsen für ihre Staatsanleihen bestrafen.
Und jetzt kommt der entscheidende Umstand: Indem sich die Finanzminister auf fiskale Verengung verpflichteten, haben sie sich selbst Raum für eine gewisse fiskale Lockerung gegeben. Das Versprechen von Haushaltsdisziplin hat ihnen Verschwendung ermöglicht. Indem sie weniger als versprochen sparten, konnten sie eine fiskale Täuschung begehen. Und die meisten Finanzminister haben genau dies getan.
Dies ist ein Teil der Misere, die sich die Makroökonomie selbst eingebrockt hat. Sobald in die Ökonomie Faktoren wie Annahmen und Erwartungen einbezogen werden, was sicher vernünftig ist, können die Ergebnisse haushaltspolitischer Maßnahmen nicht mehr berechnet werden. Zu viel hängt davon ab, was Menschen über das Ergebnis der Maßnahmen denken. In der ökonomischen Fachsprache sind diese Ergebnisse dann „modellabhängig“.
Der Nobelpreisträger Paul Krugman hat sich verächtlich über die „Vertrauensfee“ geäußert: die Behauptung, Haushaltspolitik müsse sich die Unterstützung der Anleihenmärkte sichern. Aber zu zeigen, dass bestimmte Maßnahmen die Lage verschlimmert haben, bedeutet nicht automatisch, dass es bessere Maßnahmen gegeben hat. Der Erfolg der richtigen Maßnahmen kann von der öffentlichen Erwartung ihrer Effekte abhängig sein. Die unbeantwortete Frage lautet, warum die Öffentlichkeit falsche Erwartungen haben sollte.
Nicht nur die Haushaltspolitik ist durcheinander, sondern auch die Geldpolitik. Die Zentralbanken haben die Vertrauensfee zu vermeiden versucht, indem sie Geld druckten – oder vielmehr auf den Sekundärmarkt Staatsanleihen aufkauften. Es wird erwartet, dass das zusätzliche Geld durch die Wirtschaft zirkuliert und deren Aktivität beschleunigt. Die Europäische Zentralbank hat gerade ein Anleihekaufprogramm in Höhe von 1,1 Billionen Euro begonnen, um das deutsche Veto gegen Haushaltsexpansion zu umgehen.
Aber auch die Effekte der so genannten quantitativen Lockerung hängen von Erwartungen ab. Entwickeln Unternehmen dadurch, dass ihnen mehr Geld gegeben wird, mehr Vertrauen, werden sie mehr ausgeben. Haben sie zu der Maßnahme kein Vertrauen, werden sie das Geld horten.
Die Ergebnisse der quantitativen Lockerung in den Vereinigten Staaten und Großbritannien waren zwiespältig. Tatsächlich konnten die Regierungen im Zuge fallender Renditen billiger an Geld kommen. Aber die Banken haben das ihnen zusätzlich verfügbare Geld nicht verliehen. Dies lag einerseits an mangelnder Kreditnachfrage, und andererseits daran, dass sie das Geld zur Bezahlung ihrer eigenen Schulden verwendeten.
Die größte positive Wirkung hatte die quantitative Lockerung auf die Anlagepreise – insbesondere auf die Preise für Finanzanlagen. Aber größerer Reichtum für die ohnehin schon Reichen führt nicht unbedingt zu zusätzlichen Ausgaben. Vielmehr steigt dadurch die Ungleichheit und die Bedrohung durch Preisblasen, die zu einem neuen Finanzcrash führen können.
Also betreten wir das Zeitalter nach der Krise, ohne die richtigen Makromaßnahmen für wirtschaftliche Erholung oder die Verhinderung zukünftiger Kernschmelzen zu kennen. Große Hoffnungen werden auf bessere finanzielle Regulierung gegen exzessive Krediterzeugung gesetzt. Aber was ist „exzessiv“? Werden die Zentralbanken weiterhin ein Inflationsziel von 2% anstreben? Oder sollten sie auf ein „Nominaleinkommensziel“ setzen? Wie müssen die neuen Haushaltsregeln aussehen, und wie sollten sie – in der Eurozone – durchgesetzt werden?
Ökonomen diskutieren darüber, ob Marktwirtschaften auf natürliche Weise stabil sind. Als Keynesianer glaube ich fest daran, dass Marktwirtschaften durch die Politik stabilisiert werden müssen. Aber Keynesianer müssen sich der unangenehmen Wahrheit stellen, dass der Erfolg von Stabilisierungsmaßnahmen davon abhängen kann, ob die Unternehmen keynesianische Erwartungen haben. Sie müssen gewährleisten, dass die Vertrauensfee auf ihrer Seite ist.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
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