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Ein Jahr Krieg in der Ukraine Die große Unbekannte im Ukrainekrieg

Überraschungsbesuch: US-Präsident Joe Biden (l.) reiste nach Kiew und traft sich dort mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj 
Überraschungsbesuch: US-Präsident Joe Biden (l.) reiste nach Kiew und traft sich dort mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj 
© Presidential Office of Ukraine / picture alliance
Zum Jahrestag des russischen Angriffs gibt es viele Bilanzen und Analysen. Dabei bleibt eine Frage immer unbeantwortet: Was kann, was will der Westen eigentlich erreichen? Drei Thesen

Es gibt Ereignisse, deren Folgen und Bedeutung sich erst viele Jahre, ja, Jahrzehnte später ermessen lassen. Die Eindrücke der ersten Wochen, die hektische Betriebsamkeit in den Monaten danach – all das verlangt Aufmerksamkeit, lenkt zugleich ab und verstellt den Blick auf die größeren Perspektiven. So geht es uns auch ein Jahr nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine.

Dieses Jahr war übervoll mit Eindämmung und Krisenmanagement: Sanktionen gegen Russland, Waffenlieferungen für die Ukraine, Europa geht das Gas aus. Dann wieder Sanktionen, weitere Waffenlieferungen, Abschluss neuer Gasverträge, neue Sanktionen, neue Waffenlieferungen, staatliche Hilfs- und Rettungspakete, die ersten Terminals für Flüssiggas-Schiffe an Nord- und Ostsee (eingerichtet in nur wenigen Monaten), und jetzt: den ersten Winter ohne russisches Gas hat Deutschland wider Erwarten einigermaßen glimpflich überstanden. In einem ungeheuren, atemlosen Krisenstakkato haben sich Deutschland und Europa gegen Russlands Aggression gestemmt, ohne selbst Kriegspartei zu werden.

Mehr noch: Europa und der Westen haben sich besser behauptet, als das in den ersten Kriegstagen zu erwarten war. Mit wenigen Ausnahmen hat die westliche Allianz Einigkeit bewiesen, sie hat sich nicht spalten lassen (worauf Russlands Präsident Putin spekuliert hatte). Die westlichen Waffenlieferungen kommen langsam, aber mit ihrer Hilfe und dem eigenen Kampfeswillen haben die Ukrainer Russlands Kriegsmaschinerie im Osten des Landes festgesetzt und teilweise bereits aufgerieben.

Die Wirtschafts- und Finanzsanktionen haben Russlands Wirtschaft nicht zusammenbrechen lassen, aber sie wirken – das gilt auch für die erst kürzlich beschlossenen Energiesanktionen. Russland kann sein Öl und Gas zwar noch verkaufen, aber es nimmt damit bei weitem nicht mehr so viel ein – im Gegenteil, der Staatshaushalt ist inzwischen tief im Minus. 2023 dürfte für Russlands Wirtschaft ein sehr viel schwierigeres Jahr werden als 2022. Putin tritt weiter auf als starker Mann, aber er ist geschwächt (was ihn, auch das ist eine wichtige Lehre, leider nicht weniger gefährlich macht).

Wie sehr sich die Kräfte in diesem einem Jahr verschoben haben, haben die Bilder dieser Woche eindrucksvoll gezeigt: Unter dem Geheul der Luftabwehr schritt ein sichtlich betagter US-Präsident, etwas unsicher aber doch bestimmt, durch Kiew und nahm seinen jungen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj in den Arm. Tags darauf bot er, umjubelt von Tausenden Polen, Putin in Warschau die Stirn – kurz nachdem dieser einsam und verlassen aus gefühlt 50 Metern Distanz seine versammelte Staatsspitze mit einer fast zweistündigen Rede gequält hatte. Wenn jemand in dieser Zeit Frieden und Sicherheit in Europa bewahren kann, dann sind es die Amerikaner und ihr alter und beeindruckend standfester Präsident.

Auch über uns haben wir viel gelernt in diesem Jahr: Künftig bestimmen nicht mehr das x-te „Gute Kitagesetz“ oder die neueste „Faire Rente mit 60“-Idee die Beratungen zum Bundeshaushalt, sondern die nötige oder fehlende Ausstattung der Bundeswehr. Manche werden den all-umsorgenden Sozialstaat vermissen, aber es ist vielleicht auch ganz gut, dass wir Prioritäten neu verhandeln und noch mal lernen müssen, Wichtiges von weniger Wichtigem zu unterscheiden.

Und doch bleibt eine große Unbekannte in all den Analysen der letzten zwölf Monate: Was will der Westen, was wollen Deutschland, Europa und die USA im Ukrainekrieg? Diese Frage bleibt, trotz aller Hilfen, Waffenlieferungen und Treueschwüre, seltsam unbeantwortet. 

#1 Die kalkulierte Unschärfe

Im Osten der Ukraine herrscht seit Wochen ein Gleichgewicht des Grauens. Um Städte wie Bachmut und Kreminna wird erbittert gekämpft, die Toten werden dort schon lange nicht mehr genau gezählt. Es sind düstere, blutige Schlachten, die sich so auch vor mehr als 100 Jahren im Ersten Weltkrieg zugetragen haben könnten. Unter unvorstellbaren Verlusten machen die Russen minimale Geländegewinne, manchmal geht es an einem Tag hundert Meter voran, am nächsten Tag wieder hundert Meter zurück.

Was soll die Ukraine in diesem Stellungskrieg erreichen? Soll sie die von Russland besetzten Gebiete befreien können (und wenn ja, bis wohin?), oder soll sie Russlands Armee auf dem Schlachtfeld sogar besiegen? Letzteres formulierte Ende Januar SPD-Chefin Saskia Esken und überraschte damit auch ihre eigene Partei – Bundeskanzler Olaf Scholz wählt stets eine andere Formulierung.

Der ehemalige US-General Wesley Clark sagte in der vergangenen Woche am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz, in sechs bis acht Monaten könne die Ukraine den Krieg beenden – vorausgesetzt, der Westen statte sie umgehend mit schweren Waffen, allen voran, mit Kampfpanzern und modernen Raketenwerfern aus. Was vielversprechend klingt, stößt in der westlichen Allianz allerdings auf auffällige Gleichgültigkeit. Dazu passt die Wortwahl von Kanzler Scholz, der interessanterweise nie von einem Sieg der Ukraine spricht – sondern davon, dass Russland den Krieg nicht gewinnen und die Ukraine ihn nicht verlieren dürfe.

Zwischen ‚Krieg gewinnen‘ und ‚nicht verlieren‘ liegen Welten – und genau in dieser Lücke steckt der fortwährende Streit der westlichen Verbündeten über Waffenlieferungen fest: Von den vor wenigen Wochen zugesagten 90 Leopard-2-Kampfpanzern bekommt eine Allianz unter deutscher Führung bisher allenfalls die Hälfte zusammen. Viele Staaten haben ihre Zusagen wieder zurückgezogen, warum, ist unklar. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es dem Westen im Ukrainekrieg nicht um einen Sieg der Ukraine geht, sondern um eine Zermürbung Russlands, ähnlich wie in Afghanistan in den 1980er-Jahren: Das Land und seine Armee sollen so weit geschwächt werden, dass es so bald keinen weiteren Krieg mehr anfangen wird. 

#2 Das Risiko nach Putin

Vor fast einem Jahr trat US-Präsident Biden schon einmal in Warschau auf, und damals sagte er einen Satz, der für viel Aufregung sorgte: „Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.“ Auf der ganzen Welt wurde der Satz verstanden als Plädoyer für einen Machtwechsel in Moskau – Putin müsse weg, mit ihm könne es keinen Frieden in Europa mehr geben. Aber Regimechange in Moskau, sollte das wirklich ein Ziel des Westens sein? Die Formulierung löste hektische Beschwichtigungen der Amerikaner aus, soweit wollte man sich dann doch nicht in die russischen Angelegenheiten einmischen.

Womöglich ist die Zurückhaltung auch der Einsicht geschuldet, dass es nach Putin nicht unbedingt besser werden muss in Russland. So traurig das klingt, aber gegen die konkurrierenden Warlords Jewgeni Prigoschin mit seiner Wagner-Truppe und Ramsan Kadyrow mit seinen Tschetschenen-Kämpfern ist Putin vielleicht wirklich noch das geringere Übel. Die bange Frage lautet: Wer würde nach Putin den Finger am Atomknopf haben?

Niemand kann heute im Westen sagen, wohin das Riesenreich Russland driftet, sollte Putin eines Tages doch gestürzt werden – und sei es aus einem der gefährlichen russischen Fenster. Auf die Hoffnung, dass es nach ihm besser wird, sollte der Westen besser nicht bauen. Aber eine Eindämmungsstrategie für das Chaos und die Gefahren, die noch von Russland in den kommenden Jahren ausgehen können, hat der Westen nicht.

#3 Der Westen ist geeint, aber isoliert

Das führt zu einem dritten Befund, der seltsam unterbelichtet ist: Wer ist eigentlich dieser Westen? Es sind, wenn wir ehrlich sind, vor allem Europa und die USA, plus Japan, Australien und Neuseeland. Wirtschaftlich und militärisch ist dies noch ein sehr mächtiger Block. Aber der Rest der Welt, und es ist der größere Teil, steht entweder mehr oder weniger offen an der Seite Russlands oder man gibt sich offiziell neutral, sucht aber die Nähe Moskaus.

So ist auch die Entscheidung im UN-Sicherheitsrat zu lesen: 141 von 180 Staaten votierten heute Nacht für einen Rückzug Russlands aus der Ukraine. Doch 32 Staaten, darunter China, Indien und Südafrika, enthielten sich. Nun kann man es für einen Erfolg halten, dass China nicht offen mit Russland stimmte – doch ohne größeren Druck aus China und Indien wird Putin nicht einlenken. Und der ist nicht erkennbar.

Eine Studie des Historikers Timothy Garton Ash im Auftrag des European Council on Foreign Relations brachte diese Woche eine interessante Spaltung zutage: Der Riss zwischen dem Westen und dem Rest der Welt über den Umgang mit Russland und der Ukraine geht sehr viel tiefer. So sagt eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung in China, Indien und sogar der Türkei, Russland sei ein Verbündeter oder wenigstens ein strategischer Partner. Und in allen drei Ländern plus Russland gilt es als weitgehend ausgemacht, dass Europa und die USA die Ukraine nur unterstützten, um ihre eigene Vormachtstellung in der Welt zu verteidigen. In der Ziellosigkeit der Ukraine-Unterstützer zeigt sich, dass der Westen nicht mehr viele Verbündete hat.

All das führt zu einer letzten Frage: Hat der Westen die Kraft, diesen Krieg und die Unterstützung für die Ukraine weiter durchzuhalten? Die Antwort darauf jenseits der öffentlichen Beteuerungen ist schwierig: Die Waffenbestände, der Zustand der europäischen Armeen und die regelmäßigen politischen Unsicherheiten rund um Wahltermine lehren Bescheidenheit. Die wirtschaftlichen Kosten des Krieges sind auch im Westen zu spüren, sie schüren Unsicherheit und teils auch Frustration in den Bevölkerungen. So bitter das ist, vor allem für die ukrainischen Soldaten: Ihr Kampf entscheidet sich spätestens bei der nächsten Präsidentenwahl in den USA in 18 Monaten, auch das hat sich in dieser historischen Woche gezeigt.

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