Anzeige

Kolumne Das Risiko der EU-Zentralisierung

Mehr Europa gilt vielen Politikern als Königsweg zur Überwindung der derzeitigen Krise. Doch Zentralisierung als Selbstzweck schadet, denn Europas Stärke ist die Vielfalt. Von Otmar Issing
Figure

Otmar Issing war Chefökonom der Europäischen Zentralbank und ist heute Präsident des Center for Financial Studies an der Goethe-Universität Frankfurt.

Für viele führende europäische Politiker beweist die Eurozonenkrise die Notwendigkeit von „mehr Europa“, wobei das letztliche Ziel eine voll ausgebildete politische Union ist. Angesichts der Geschichte des Kontinents mit ihren Kriegen und ideologischen Spaltungen und der heute von der Globalisierung ausgehenden Herausforderungen ist ein friedliches, wohlhabendes und geeintes Europa, das im Ausland Einfluss hat, sicher ein wünschenswertes Ziel. Doch es gibt erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, wie sich dieses Ziel erreichen lässt.

Historisch gesehen galt die Währungsunion als Weg zur politischen Union. In den 1950er Jahren argumentierte der französische Ökonom Jacques Rueff, ein enger Berater Charles de Gaulles: „L’Europe se fera par la monnaie, ou ne se fera pas.“ (Europa entsteht durch das Geld, oder gar nicht.) Im gleichen Sinne äußerte sich fast ein halbes Jahrhundert später Bundespräsident Richard von Weizsäcker, als er sagte, dass die Europäer nur über eine gemeinsame Währung zu einer gemeinsamen Außenpolitik finden würden. Und in jüngerer Zeit erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa.”

Doch die Krise, vor der „Europa“ steht, ist weniger eine Krise der politischen Union als der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Wenn überhaupt, haben die Bemühungen, die Währungsunion zusammenzuhalten, uns weiter vom Ziel einer gemeinsamen Außenpolitik entfernt, indem sie in den Mitgliedstaaten (egal, ob diese Finanzhilfe leisten oder empfangen) neue nationalistische Ressentiments entzündet haben, von denen wir hofften, dass sie längst ein Ding der Vergangenheit seien.

Schlechte Argumente für weniger Souveränität

Die Politiker haben die Währungsunion 1999 trotz Warnungen besiegelt, dass die sie bildenden Volkswirtschaften zu unterschiedlich seien. Schon bald verstießen mehrere Staaten gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Später wurde der Nichtbeistandsgrundsatz der Eurozone aufgegeben. Die Reaktion auf diese Verstöße jedoch war die Forderung nach verstärkter wirtschaftlicher Integration, unter Einschluss von Zwischenschritten wie der Schaffung eines „europäischen Finanzministers“ oder eines EU-Kommissars mit weitreichenden Befugnissen zur Förderung einer engeren Integration.

Derartige Ideen ignorierten natürlich die zentralen Fragen nationaler Souveränität und Demokratie, und insbesondere das Privileg der gewählten nationalen Regierungen und Parlamente, über ihre eigenen Steuern und öffentlichen Ausgaben zu entscheiden. Und die Tatsache, dass souveräne Mitgliedsstaaten ihre europäischen Verpflichtungen nicht einhielten, ist nicht gerade ein überzeugendes Argument dafür, jetzt Souveränität aufzugeben.

Kurz gesagt: All die Maßnahmen, die eine politische Union implizit stützen würden, haben sich als widersprüchlich und gefährlich erwiesen. Sie sind für die Mitglieder der Eurozone mit enormen finanziellen Risiken verbunden. Sie haben die Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten angeheizt. Und vielleicht am wichtigsten: Sie haben die Grundlage, auf der eine politische Union ruht – nämlich, die Bürger der Europäischen Union zu überzeugen, sich mit der europäischen Idee zu identifizieren – untergraben.

Die öffentliche Unterstützung für „Europa“ ist in starkem Maße von dessen wirtschaftlichem Erfolg abhängig. Tatsächlich sind es Europas wirtschaftliche Leistungen, die ihm eine politische Stimme in der Welt geben. Doch wie die aktuelle Krise zeigt, sind die leistungsstärksten EU-Volkswirtschaften jene mit (relativ) flexiblen Arbeitsmärkten, mäßigen Steuersätzen und einem freien Zugang zu Berufen und Wirtschaftsleben.

Zudem kam der Anstoß zu Wirtschaftsreformen nicht von der EU, sondern von den nationalen Regierungen. Eines der erfolgreichsten Beispiele ist die Agenda 2010, die vor einem Jahrzehnt vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeleitet wurde. Zahlreiche akademische Studien im Gefolge der Arbeiten des amerikanischen Wirtschaftshistorikers Douglass North stützen die Vorstellung, dass es der Wettbewerb zwischen Staaten und Regionen ist, der technischem Fortschritt und wirtschaftlichem Wachstum den Boden bereitet. Das totale Scheitern der im März 2000 verabschiedeten Lissabon-Strategie, die EU zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen“, hat die Schwäche eines zentralisierten Ansatzes unter Beweis gestellt.

Falsche Schlüsse

Es lässt sich argumentieren, dass es der Wettbewerb innerhalb Europas war, der in früheren Jahrhunderten in weiten Teilen des Kontinents für nie dagewesene Dynamik und Prosperität sorgte. Sicher war dies zugleich eine Zeit der Kriege, aber das bedeutet nicht, dass die Zentralisierung der beste – oder gar der einzige – Weg ist, Frieden zu gewährleisten.

Doch die Staats- und Regierungschef der EU zogen einmal mehr den gegenteiligen Schluss: Das Scheitern der Lissabon-Strategie wurde als Rechtfertigung einer noch stärkeren Harmonisierung und Zentralisierung der nationalen Politiken interpretiert. In gewohnter Manier forderte der Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, in seiner Rede zur Lage der Union vor dem Europäischen Parlament im September 2012 eine Ausweitung der Kommissionsbefugnisse.

Dieser Ansatz – Harmonisierung, Koordination und zentralisierte Entscheidungsfindung – wird nach wie vor als Allheilmittel für Europas Probleme betrachtet. Es ist die Art vorgegebenen Wissens, die der Ökonom Friedrich von Hayek als Rezept für die Einschränkung der Freiheit und die Gewähr wirtschaftlicher Mittelmäßigkeit kritisierte. Tatsächlich sollte das europäische Projekt von der Prämisse ausgehen, dass geeignete Institutionen, Eigentumsrechte und Wettbewerb, zusammen mit einem wachstumsfreundlichen Steuersystem und einer soliden Fiskalpolitik, die Grundlage des wirtschaftlichen Erfolges sind.

Die Gefahren eines Zentralisierungsansatzes lassen sich auch an der Beziehung zwischen den 17 derzeitigen Mitgliedern der Eurozone und den elf EU-Staaten ablesen, die den Euro nicht eingeführt haben. Während Erstere die Integration weiter vorantreiben, dürften die negativen wirtschaftlichen Folgen dieses Tuns Letztere von der Teilnahme an der Währungsunion abhalten (was ein weiterer Hinweis dafür sein könnte, dass sich der institutionelle Wettbewerb nicht ewig unterdrücken lässt).

Es gibt eine Menge Felder, auf denen gemeinsame Maßnahmen auf EU-Ebene sowohl angemessen als auch effizient sind. Die Umweltpolitik etwa gehört eindeutig dazu. Doch die Zentralisierung wirtschaftlicher Entscheidungen als Selbstzweck kann kein Fundament für ein wohlhabendes, mächtiges Europa sein.

Jean Monnet, einer der Gründerväter der EU, hat einmal gesagt, dass er, hätte er die Chance, den Prozess der europäischen Integration noch einmal von vorn zu beginnen, bei der Kultur ansetzen würde – einer Dimension, in der wir eine Zentralisierung weder brauchen noch wollen. Europas kultureller Reichtum besteht nämlich gerade in seiner Vielfalt, und die Grundlage für seine größten Leistungen ist seit jeher der Wettbewerb zwischen Menschen, Institutionen und Orten. Seine aktuelle wirtschaftliche Malaise spiegelt die fortgesetzten Bemühungen der europäischen Führungen wider, das Offensichtliche zu bestreiten.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2013.
www.project-syndicate.org

Foto: © Getty Images

Folgen Sie Capital auf Twitter: @capitalMagazin

Neueste Artikel