Eine weitere Prozesswelle gegen VW in den USA. Hunderte von Anklagen gegen deutsche Banken wegen Steuerbetrug bei Cum-Ex-Geschäften. Das Tauziehen um die juristische Aufarbeitung des Wirecard-Skandals. Die nicht enden wollende Kette von Glyphosat-Verfahren gegen die Bayer AG. Nie waren die Justiziare deutscher Konzerne so beschäftigt wie heute. Und nie konnten ihre juristischen Berater in den einschlägigen Großkanzleien so viel Geld verdienen.
Ein juristisches Grundrauschen gehörte zwar schon immer zum Alltag jedes großen Unternehmens. Irgendwelche Klagen und Widerklagen laufen immer. Aber die Dimension der Belastung in so vielen großen Unternehmen gleichzeitig ist nicht normal. Schließlich geht es in einigen Verfahren um den schieren Fortbestand der jeweiligen Firma. Man denke nur an die Schadenersatzklagen gegen die große Wirtschaftsprüfergesellschaft EY, die im schlimmsten Fall zum Bankrott führen könnten. Oder an Bayer, wo am Ende der vielen Prozesse die Zerschlagung des Konzerns durch aktivistische Investoren stehen könnte.
Überall steht die Deutschland AG ein Stück mit vor Gericht
Natürlich unterscheidet sich jeder einzelne Fall vom nächsten. Aber dennoch kann man nicht allein von einer unglücklichen, letztlich zufälligen Häufung von Verfahren sprechen. Überall steht die Deutschland AG ein Stück mit vor Gericht. Was die sogenannte Compliance betrifft, gehören unsere Konzerne nach wie vor nicht zur Weltspitze. In vielen Fällen versagen zu oft die internen Kontrollen.
Bestes Beispiel: die Deutsche Bank, die sich nun schon ein ganzes Jahrzehnt mit Geldwäschefällen herumschlagen muss. In vielen Konzernen beschäftigt man sich erst dann mit den schlampigen Kontrollen, wenn der Schaden bereits eingetreten ist. Ein gutes Beispiel dafür liefert die Grenke AG, die erst nach einer – am Ende gescheiterten – Shortseller-Attacke für eigentlich schon lange fällige Korrekturen sorgte.
Vor allem mangelt es nach wie vor an dem notwendigen professionellen Umgang zwischen Aufsichtsrat und Vorstand. Bei Wirecard war die Corporate Governance ein einziger Witz. Bei VW setzt sich der Porsche-Piech-Clan seit Jahrzehnten über wichtige Grundsätze einer geordneten Arbeitsteilung zwischen den Gremien hinweg.
Bei Bayer erwies sich die zu große Nähe zwischen dem jetzigen Chef Werner Baumann und dem langjährigen Aufseher Werner Wenning am Ende als Problem. Das man in den obersten Etagen in Leverkusen nur von den „beiden Werners“ sprach, als ob es um ein paar Fußballkumpels ging, spricht Bände. Bei der Warburg Bank, die ein besonders großes Rad bei den Cum-Ex-Geschäften drehte, beaufsichtigten sich die Eigentümer jahrelang quasi selbst. Man könnte die Reihe leicht fortsetzen.
Corporate-Governance-Diskussion ermattet
Die Corporate-Governance-Diskussion in Deutschland ist in den letzten Jahren sichtlich ermattet. Das Häkchen-Machen bei formalen Vorschriften funktioniert inzwischen problemlos, aber man lebt die vorhandenen Grundsätze hinter den vielen Regeln nach wie vor nur mangelhaft. Und mit der persönlichen Haftung, die für ein härteres Vorgehen der Aufsichtsräte gegen ihre Vorstände sorgen sollte, ist es in der Praxis nicht weit her. Am Ende zahlen die einschlägigen Manager-Versicherungen und die Betroffenen leisten höchstens einen mehr oder weniger symbolischen Beitrag, wie das Beispiel des früheren VW-Chefs Martin Winterkorn zeigt.
Manche Topmanager wenden ein, früher sei alles ja auch nicht anders gewesen. Warum also gerade jetzt diese große Prozessflut? Weil sich die übrige Welt gewandelt hat und die Justiz sehr viel genauer hinschaut.
Bernd Ziesemerist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint regelmäßig auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.