Wer wissen will, wie es wirklich um die Elektromobilität steht, sollte sich einmal in seinem eigenen Stadtteil umschauen. Zum Beispiel in Harvestehude – einem Wohnort mitten in Hamburg, wo sich gutbetuchte Bürger besonders für einen Tesla oder Mercedes EQC interessieren. Dort findet man gerade einmal sieben öffentliche Ladestationen mit jeweils einem bis vier Plätzen. Über den Daumen stehen damit für 0,001 Prozent der Einwohner Ladeplätze an den Straßen des Stadtteils bereit. Natürlich rüsten immer mehr Bürger ihre Garagen mit entsprechenden Wandboxen auf – doch in einem Viertel mit vielen Altbauten stoßen sie schnell an ihre Grenzen. Die Leitungen aus vergangenen Jahrzehnten sind nicht ausgelegt, um hohe Lasten zu bewältigen. Die Umrüstung verschlingt leicht fünfstellige Summen und entzweit die Hausgemeinschaften, die sie bezahlen müssen.
In den allermeisten deutschen Gemeinden sieht es noch viel finsterer aus als in Harvestehude. Offiziell stehen im ganzen Land bisher nur 52.000 Säulen für E-Autos zur Verfügung. Knapp 8000 davon gelten als „Schnellladepunkte“. Nach einem so genannten Masterplan der Regierung soll die Zahl der Säulen bis 2030 auf eine Million steigen, also 20-mal so viele wie heute. Doch vor Ort in den Kommunen gibt es so gut wie niemanden, der diese Zahl auch unterschreibt. Man sollte einfach mal im eigenen Stadtviertel nachfragen.
Aller Wahrscheinlichkeit fährt Deutschland mit hoher Geschwindigkeit auf eine große Ladelücke zu. E-Autos zu produzieren ist leicht, die Infrastruktur für sie zu schaffen ziemlich schwer. Es geht ja nicht nur um den Bau von Ladesäulen, sondern auch um die Neuverkabelung vieler Häuser, ja ganzer Stadtviertel. Und auch mehr Strom muss her als heute. Nach Schätzung der Energiebranche erhöht sich der Bedarf an Spitzenlastkapazität bis 2030 um ein Fünftel gegenüber heute – allein durch die Elektromobilität. Dann fahren nach den Plänen der Autoindustrie 15 Millionen E-Autos durch Deutschland und wollen versorgt werden.
Noch ist nicht ganz klar, wer sich dafür überhaupt verantwortlich fühlt. Setzen die Autohersteller künftig verstärkt auf eigene Ladesäulen nur für ihre eigene Klientel? Die Amerikaner versuchen das mit ihrem „Tesla Supercharger“. Gerade in Vierteln wie Harvestehude mit knappem Platz für neue Ladestationen droht allerdings ein Hauen und Stechen, wenn als Hersteller diesen Weg gehen wollten. Was ist mit den Tankstellen? Bisher gibt es Pilotprojekte, mehr aber auch nicht, weil der Teufel im Detail liegt. Die Stromkonzerne? Wollen ja, aber können bisher nicht. Und der Staat? Entwirft vor allem große Pläne und gibt viele Absichtserklärungen ab.
Klar ist: Man braucht neue Lösungen. Sowohl für öffentliche Ladestationen als auch für private. Intelligente Systeme im Großen und im Kleinen, im Stadtviertel und im Haus. Viele Start-ups arbeiten daran. Und die großen Konzerne fördern sie, wo sie nur können, oder steigen sogar als Investoren ein. Es tut sich viel, aber die große Frage ist: Kommt man schnell genug voran? Bis 2030 bleiben gerade einmal acht Jahre. Nicht viel Zeit, wenn es um Infrastrukturprojekte geht. Man wird die neue Bundesregierung daran messen, ob sie mehr Kilowatt auf die Straße bringt als die Vorgängerkoalition.
Bernd Ziesemerist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint regelmäßig auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.