Ein Gespenst geht um in den Finanzministerien und Zentralbanken des Westens – das Gespenst der säkularen Stagnation. Was, wenn es nicht zu einer nachhaltigen Erholung nach dem wirtschaftlichen Einbruch der Jahre 2008 bis 2013 kommt? Was, wenn die Quellen des Wirtschaftswachstums versiegt sind – nicht nur vorübergehend, sondern für immer?
Dieser neue Pessimismus stammt nicht von Marxisten, die schon immer nach untrüglichen Zeichen für den Zusammenbruch des Kapitalismus Ausschau hielten, sondern aus dem Zentrum des politischen Establishments: nämlich von Larry Summers, ehemaliger US-Finanzminister unter Präsident Bill Clinton und dann und wann irgendwo immer Chefökonom.
Summers’ Argument lautet kurzgefasst: Wenn die erwartete Rentabilität von Investitionen sinkt, müssen auch die Zinsen in gleichem Ausmaß sinken. Doch Zinssätze können nicht unter null fallen (tatsächlich könnten sie über null feststecken, wenn ein starker Wunsch nach dem Aufbau von Barguthaben besteht). Das könnte dazu führen, dass Gewinnerwartungen unter die Kosten der Kreditaufnahme sinken.
Es besteht weitgehende Einigkeit, dass diese Entwicklung auf dem Tiefpunkt eines Abschwungs eintreten könnte. Um diese Möglichkeit auszuschalten, begannen die Zentralbanken nach 2008 Geld in die Wirtschaft zu pumpen. Das wirklich Neue an Summers‘ Argument besteht in der Behauptung, dass die „säkulare Stagnation“ 15 bis 20 Jahre vor dem Absturz einsetzte.
Rendite in Richtung null
Die Zinsen sind zwar gefallen, aber nicht so rasch wie die erwarteten Renditen aus neuen Investitionen. Daher wurden die meisten westlichen Ökonomien sogar während der Jahre des Booms nicht durch neue Investitionen in Gang gehalten, sondern durch Vermögenspreisblasen auf Grundlage zunehmend untragbarer Schulden.
Die verallgemeinerte Version dieser These lautet, dass eine säkulare Stagnation – die anhaltende Nichtausschöpfung potenzieller Ressourcen – das Schicksal aller Ökonomien ist, die auf private Investitionen angewiesen sind, um die Lücke zwischen Einkommen und Konsum zu füllen. Da Kapital in stärkerem Ausmaß zur Verfügung steht, sinkt die risikobereinigte erwartete Rendite für neue Investitionen in Richtung null.
Das heißt allerdings nicht, dass alle Investitionen zu einem Ende kommen. Könnte man das Risiko ausschalten, wäre es möglich, den Investitionsmotor am Laufen zu halten, zumindest vorübergehend.
An diesem Punkt kommen öffentliche Investitionen ins Spiel. Bestimmte Kategorien von Investitionen werfen möglicherweise nicht jene risikobereinigten Renditen ab, die private Investoren verlangen. Aber vorausgesetzt die Erträge sind positiv, lohnen sich diese Investitionen allemal. Angesichts von Zinssätzen nahe null und nicht beschäftigter Arbeitskräfte, ist es an der Zeit, dass der Staat den Wiederaufbau der Infrastruktur in Angriff nimmt.
kapitalintensive Auswirkungen des Weltkrieges
Wer mit der Geschichte vertraut ist, weiß, dass Summers auf ein Argument des amerikanischen Ökonomen Alvin Hansen aus dem Jahr 1938 zurückgreift. Aufgrund einer Verlangsamung des Bevölkerungswachstums und einer daher geringeren „Kapitalnachfrage“ stand die Welt laut Hansen „in den vor uns liegenden Jahrzehnten“ vor dem Problem „säkularer oder struktureller Arbeitslosigkeit“.
Der ausgedehnte Boom nach dem Zweiten Weltkrieg widerlegte Hansens Prognose. Allerdings war sein Argument nicht dumm; vielmehr erwiesen sich die ihm zugrunde liegenden Annahmen als falsch. Womit Hansen nicht rechnete, waren die enorm kapitalintensiven Auswirkungen des Weltkrieges und vieler kleinerer Kriege in Kombination mit dem langen Kalten Krieg, wodurch Kapital knapp blieb. In den Vereinigten Staaten lagen die Militärausgaben in den 1950er und 1960er Jahren im Schnitt bei zehn Prozent des BIP.
Das Bevölkerungswachstum wurde durch einen kriegsbedingten Babyboom und Masseneinwanderung in die USA und Westeuropa verstärkt. In den Entwicklungsländern eröffneten sich neue Exportmärkte und private Investitionsmöglichkeiten. Die meisten westlichen Regierungen verfolgten umfangreiche zivile Investitionsprogramme: Man denke an das unter Präsident Dwight D. Eisenhower in den 1950er Jahren in den Vereinigten Staaten errichtete Fernstraßennetz der Interstate Highways.
Innovationen schaffen Investitionsbedarf
Diese Mischung aus wirtschaftsförderlichen Ereignissen und Strategien ermöglichte den westlichen Ökonomien in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Aufrechterhaltung hoher Investitionsquoten. Man kann aber argumentieren, dass alle diese Entwicklungen lediglich den Tag hinauszögerten, an dem die erwartete Kapitalrendite unter den für Sparer akzeptablen Mindestzinssatz fällt – eine Entwicklung, die eintreten würde, da Kapital im Verhältnis zur Bevölkerungszahl immer reichlicher vorhanden wäre.
Hansen war der Ansicht, dass neue Erfindungen weniger Kapital benötigen würden als in der Vergangenheit. Eingetreten ist dies in Form der von den beiden MIT-Ökonomen Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee als Zweites Maschinenzeitalter bezeichneten Entwicklung. Ein Unternehmen wie Kodak brauchte und errichtete weit mehr Infrastruktur als seine digitalen Nachfolger Instagram und Facebook - und beschäftigte (natürlich) auch viel mehr Arbeitskräfte. Die Erfindungen der Zukunft könnten durchaus noch weniger Kapital (und Arbeitskräfte) erfordern.
Was folgt daraus? Der Menschheit gelang es in der Vergangenheit sehr gut, Kapital knapp zu halten – hauptsächlich durch zerstörerische Kriege. Man kann nicht ausschließen, dass auch in Zukunft auf diese Lösung zurückgegriffen wird. Abgesehen davon ist es aber sicher verfrüht zu glauben, dass dem Westen die Investitionsmöglichkeiten ausgegangen sind. Einige neue Erfindungen wie selbstfahrende Autos werden enorme Kapitalinvestitionen in neuartige Straßen erfordern. Und es fallen einem noch viele andere Möglichkeiten ein. Wahrscheinlich ist allerdings, dass die meisten dieser neuen Investitionen mit staatlichen Subventionen getätigt werden.
Vollinvestition führt in eine neue Welt
Aber darüber hinaus sollte man die säkulare Stagnation eher als Chance denn als Bedrohung betrachten. Die klassischen Ökonomen des 19. Jahrhunderts freuten sich auf einen von ihnen so bezeichneten „stationären Zustand“, in dem sich ein Leben aus „Stoßen, Drängen, einander auf die Fersen Treten” erledigt hätte, wie es John Stuart Mill formulierte.
Würde man jemals „Vollinvestition“ erreichen – also eine Situation, in der das Kapitalangebot bis zu dem Punkt ansteigt, an dem es keinen, über seinen Wiederbeschaffungskosten liegenden Nettoertrag abwirft – hätte die Menschheit ihr ökonomisches Problem gelöst. Die Herausforderung bestünde dann darin, den Kapitalüberfluss in mehr Freizeit und ausgewogenen Konsum umzuwandeln.
Sollte das jemals eintreten, stünden wir an der Schwelle zu einer neuen Welt – manche würden sagen, zu einem Paradies auf Erden. Einer Tatsache können wir uns aber ziemlich sicher sein: die politisch Verantwortlichen werden ihr Bestes geben, um sicherzustellen, dass wir nie dorthin gelangen.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier
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