Über Jahre dominierte das Mantra der schwarzen Null das deutsche Finanzministerium. Der frühere Minister Wolfgang Schäuble machte sie zu seinem Markenzeichen. Ein Markenzeichen solider Fiskalpolitik ― so die Erzählung. Schuldenfreiheit und Sparsamkeit seien Tugenden des privaten Haushaltens, die sich auch der Staat zu eigen machen solle. Schäubles Nachfolger Olaf Scholz übernahm die Erzählung quasi eins zu eins. Das Parteibuch war zwar ein anderes, doch auch Scholz predigte Schuldenvermeidung und Sparsamkeit für den Staat. Dann kam die Coronakrise.
Die Pandemie hat der Wirtschaft den Stecker gezogen. Scholz und sein finanzpolitisches Erbe, die schwarze Null, waren herausgefordert. Die Notwendigkeit, mit expansiver Fiskalpolitik gegenzusteuern, machte Scholz allerdings zum Pragmatiker. Die Schuldenbremse wurde vorrübergehend ausgesetzt und die schwarze Null ging über Bord. Beides war nötig, um Konjunkturmaßnahmen zu veranlassen. Dafür musste das Staatskonto mächtig gefüllt werden. Laut Plan sollen 2020 vom Bund 218,5 Mrd. Euro neue Schulden aufgenommen werden. Im nächsten Jahr sollen es erneut knapp 100 Mio. Euro sein, wie Scholz am Freitag ankündigte.
Probleme? Nicht in Sicht. Sichere Staatsanleihen sind begehrte Ware auf dem Kapitalmarkt. Institutionelle Anleger, wie Fonds oder Pensionskassen, beklagten als Folge der schwarzen Null gar schon einen Mangel an deutschen Anleihen. Die Nachfrage ist jetzt besonders groß, weil die Europäische Zentralbank mit ihrem neu aufgelegten Anleihekaufprogramm PEPP quasi verspricht, die Anleihen im Zweifel aufzukaufen und in die eigene Bilanz zu nehmen. Ein Versprechen, auf das der Kapitalmarkt sich verlassen kann. Denn als Schöpferin des Euros kann die EZB theoretisch alles in die eigene Bilanz nehmen, was in Euro zum Verkauf steht. Mit anderen Worten: Der EZB können die Euros nicht ausgehen.
Die Debatte um Staatsverschuldung wird in aufgeregter Weise geführt. Um die Debatte zu versachlichen, lohnt sich ein Blick hinter die Fassade. Grundsätzlich gilt: Bei jeder Staatsausgabe weist das Finanzministerium die Zentralbank an, das Staatskonto bei der Zentralbank zu belasten und den Betrag der Bank des Zahlungsempfängers gutzuschreiben. Die Bank wiederum schreibt den Betrag dann ihrem Kunden auf dessen Girokonto gut. Technisch gesehen eine relativ triviale Aktion, die nicht mehr als ein paar Mausklicks zum Hoch- und Runterbuchen von Kontoständen erfordert.
In der Eurozone darf das Finanzministerium das Zentralbankkonto nicht überziehen, um Ausgaben zu tätigen. Woher also Kontoguthaben für die coronabedingten Zusatzausgaben beschaffen? Über den Verkauf von Staatsanleihen. Wie läuft das genau ab?
Das deutsche Finanzministerium verkauft Anleihen üblicherweise über die Deutsche Finanzagentur per Auktion an die sogenannte Bietergruppe . Dieser Bietergruppe gehören 36 lizenzierte und ausgewählte Geschäfts- und Investmentbanken an. Gewinnt eine der 36 Banken die Auktion, muss sie die Anleihe mit Zentralbankguthaben bezahlen. Wichtig dabei: Die Bank bezahlt allerdings nicht mit Giralgeld, das sie ja selber erzeugen kann, sondern mit Zentralbankgeld, das sie sich gegen einen festgelten Zins und bei entsprechende Sicherheiten jederzeit von der EZB beschaffen kann. Der Bund leiht sich also Zentralbankgeld über den Umweg der Bietergruppe von der EZB ― und nicht Ersparnisse von Privatpersonen, wie häufig angenommen wird. Folgt man der Spur der Euros, die der Staat ausgegeben hat, zurück, landet man letztendlich immer bei der Europäischen Zentralbank (EZB) beziehungsweise ihren nationalen Einheiten, etwa der Deutschen Bundesbank.
Sind die Staatsanleihen erst einmal an die Banken verkauft, verkaufen diese die Anleihen üblicherweise auch an private Investoren weiter, vor allem an große Vermögensverwalter wie Versicherungen und Investmentfonds. Private Investoren halten die Anleihen zwecks Vermögensbildung. Die Schulden des Staates erhöhen also das finanzielle Vermögen des Privatsektors. Die roten Zahlen des Staates sind die schwarzen Zahlen des Privatsektors. Daher: Makroökonomisch ist die aus dem Finanzministerium gepredigte Sparsamkeit eine irreführende Nebelkerze. Die schwarze Null ist wirtschaftsfeindlich und erschwert dem Privatsektor den finanziellen Vermögensaufbau.
Die Schuldenbremse ist eine Investitionsbremse
Nicht nur die Bewältigung der Coronapandemie, auch die ökologische Wende bedarf einer massiven Investitionsoffensive. Hier spielen wir gegen die Zeit. Den finanzpolitischen Pragmatismus, den uns der Umgang mit der Coronakrise beschert hat, sollten wir für die Klimakrise beibehalten. Ein Fingerzeig für ein Umdenken in Sachen Finanzpolitik. Die Einsicht, dass die Spur aller Euros letztlich zur EZB führt, kann uns beruhigen. Die EZB kann theoretisch alle benötigten Euros für den Umbau der Wirtschaft bereitstellen. Die wirklich relevanten Fragen sind nicht die nach der Finanzierung, sondern jene, die darauf abzielen, wo die Investitionen am sinnvollsten hinfließen sollen, wie die realen Ressourcen für den Umbau mobilisiert werden können und wie eine etwaige Überhitzung der Wirtschaft angesichts des massiven Investitionsbedarfs vermieden werden kann.
Um zu diesen Fragen zu kommen, müssen wir allerdings in Sachen Staatsfinanzierung einen kühlen Kopf bewahren und – das ist unabdingbar – die selbst auferlegten fiskalischen Spielregeln ändern. Die Schuldenbremse ist eine Investitionsbremse. Sie gehört abgeschafft beziehungsweise pragmatisch reformiert. Gleiches gilt für die europäischen Defizit- und Schuldenregeln. Sie schnürt den Euroländern die Luft ab. Seit Jahren dümpelt die Eurozone vor sich hin und befindet sich permanent in einem unterausgelasteten Zustand. Die Höhe der der Arbeitslosigkeit und der Zustand der öffentlichen Infrastruktur machen das deutlich. Wenn der Umbau der Wirtschaft gelingen soll, müssen die politischen Regeln auf den Tisch. Krisenbewältigung muss nicht am Geld scheitern.
Maurice Höfgenist Autor des Buchs „Mythos Geldknappheit“. Der Ökonom und Betriebswirt arbeitet derzeit hauptberuflich als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag, zudem forscht er zu der Modern Monetary Theory (MMT)