Robert Skidelsky ist Mitglied des britischen Oberhauses und emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Warwick.
Wer heute im Schatten der großen Rezession „The Samuelson Sampler“ liest, erhält Einblicke in die Denkweise eines vergangenen Zeitalters. Bei diesem Band handelt es sich um eine Zusammenstellung wöchentlicher Kolumnen, die der verstorbene Paul Samuelson von 1966 bis 1973 für das Magazin „Newsweek“ schrieb.
Samuelson war Nobelpreisträger und Doyen der amerikanischen Ökonomen: Sein berühmtes Lehrbuch Volkswirtschaftslehre erreichte zu Lebzeiten des Autors 14 Auflagen und weihte angehende Ökonomen weltweit in die Grundlagen ihrer Zunft ein. Obwohl nicht alleiniger Urheber, war Samuelson doch derjenige, der die „neoklassische Synthese“ populär machte – jene Mischung aus neoklassischer und keynesianischer Ökonomie, die den Mainstream der Disziplin über 50 Jahre lang definierte.
Samuelson war überzeugter Keynesianer, wenn auch mit Einschränkungen. Er lehnte Keynes Attacke auf die orthodoxe Ökonomie seiner Zeit zum größten Teil als unnötig ab und schrieb: „Hätte Keynes einfach erklärt, dass er die Annahme für realistisch hält, wonach Geldlöhne…unbeweglich sind und sich einer Abwärtsbewegung widersetzen…würden die meisten seiner Erkenntnisse ebenso ihre Gültigkeit behalten.“ In den Augen Samuelsons bestand Keynes’ wahrer Beitrag in den Instrumenten, die er den Regierungen zur Verfügung stellte, um wirtschaftliche Depressionen abzuwenden.
Erstaunlicher Optimismus
Bei der Lektüre von „The Samuelson Sampler“ fällt insbesondere auf, wie zuversichtlich die Ökonomen seiner Generation waren, dass die Neue Ökonomie (wie der keynesianische Ansatz in Amerika bezeichnet wurde) das Problem der Depression und der Massenarbeitslosigkeit gelöst hätte. In seinem Vorwort aus dem Jahr 1973 formulierte es Samuelson folgendermaßen: „Das Schreckgespenst einer Wiederkehr der Depression der 1930er Jahre wurde auf eine vernachlässigbare Wahrscheinlichkeit reduziert.“
Zwar würde es nach wie vor zu kleineren Fluktuationen kommen, aber, wie er im Jahr 1966 schrieb, gehören „große Depressionen – also sich selbst verstärkende, kumulierte Abschwünge – tatsächlich der Vergangenheit an.“ Der Grund dafür bestand darin, dass die Regierungen nun über die Instrumente verfügten – insbesondere die diskretionäre Fiskalpolitik – um jeden bevorstehenden Abschwung entgegenzusteuern. „Hinsichtlich des Haushalts ist von Bedeutung“, so Samuelson 1970, „ob er sich inflationär oder deflationär präsentiert und nicht, ob er sich ausgeglichen oder unausgeglichen darstellt.” Mit anderen Worten: „Ein Defizit im Dienste einer guten Sache ist ein gutes Geschäft.“ Wie viele Ökonomen oder Politiker sind heute dieser Meinung?
Da die Regierungen nun wussten, wie sie wirtschaftlichen Depressionen ein Ende bereiten konnten, würden die Wähler darauf bestehen, dass sie dieses Wissen auch einsetzen. „Wenn Gelddrucken Banken und Unternehmen vor dem Ruin bewahren kann”, so sein Argument aus dem Jahr 1966, „werden die Wähler von heute sicherstellen, dass jede regierende Partei auch entsprechend agiert.“
Nixons Bekenntnis zu Keynes
Samuelson war der Meinung, dies würde unabhängig von den ideologischen Präferenzen der Regierenden passieren. Der Republikaner Richard Nixon wurde im Jahr 1968 aufgrund eines Wahlversprechens, die kostspieligen sozialpolitischen Great Society-Programme der Demokraten zu kürzen, zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. „Ich bin kein ökonomischer Determinist”, schrieb Samuelson im November 1968, „aber ich kann mit Sicherheit vorhersagen, dass Richard Nixon sich der Neuen Ökonomie bedienen wird, wenn auch nur deshalb, weil es in diesen neuen Zeiten unausweichlich ist.“
Und so kam es auch. Statt die Wirtschaft zu deflationieren, hob Nixon 1971 die Bindung des US-Dollars an den Goldstandard auf und verhängte Lohn-, Preis- und Einfuhrkontrollen, wobei er freimütig erklärte: „In ökonomischer Hinsicht bin ich jetzt ein Keynesianer“.
Das war allerdings Samuelsons letzte zutreffende Prognose. Weniger als ein Jahrzehnt, nachdem seine Kolumnen für Newsweek eingestellt worden waren, befand sich die von ihm als dauerhafter Erkenntnisgewinn gepriesene Neue Ökonomie auf dem Rückzug vor den ideologischen Attacken Ronald Reagans und Margret Thatchers. Trotz seiner Überzeugung, dass die Wähler eine Rückkehr in die Depression nicht gestatten würden, errang Thatcher im Jahr 1987 ihren dritten Wahlsieg, kurz nachdem die Arbeitslosigkeit in Großbritannien mit drei Millionen den höchsten Wert seit den 1930er Jahren erreicht hatte.
Was ist da schiefgelaufen? Im Jahr 1969 schrieb Samuelson: „Noch auszudiskutieren bleibt in der Zunft [der Ökonomen] die genaue quantitative Wirksamkeit der Geldpolitik gegenüber der Fiskalpolitik.“ Diese Frage wurde letztlich zugunsten der Geldpolitik entschieden.
Demontage der gemischten Ökonomie
Noch bedeutender aber war, wie er 1970 ausführte, dass „nicht einmal Keynes garantieren konnte, dass die Menschheit bis ans Ende ihrer Tage glücklich leben würde. Er hinterließ uns ein ungelöstes Problem. Wie kann es gelingen, sowohl Vollbeschäftigung als auch Preisstabilität aufrechtzuerhalten?” Widerstrebend kam Samuelson zu dem Schluss, dass es dauerhafter Lohn- und Preiskontrollen bedürfte, um eine Kostendruckinflation zu verhindern. „In unserer gemischten Ökonomie“, so formulierte er 1970, „weiß man nicht, wie man eine zufriedenstellende Einkommenspolitik gestalten soll, um damit die Geld- und Fiskalpolitik zu stützen…. Darin besteht die ungelöste Problematik der modernen Ökonomie.”
Genau diese Problematik untersuchte 1944 Friedrich von Hayek als Erster in seinem Buch Der Weg zur Knechtschaft. Hayek befürchtete, dass bewusst verfolgte politische Strategien zur Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung zu einem Anstieg staatlicher Eingriffe in den freien Markt und die politische Freiheit führen würden. Und genau diese Befürchtungen führten ab den 1980er-Jahren zur scheibchenweisen Preisgabe des Systems der gemischten Ökonomie – und tatsächlich zur Demontage der gemischten Ökonomie an sich.
Samuelson hatte zur Hälfte recht: Die Regierungen wissen, wie man das Abgleiten in eine weitere Große Depression verhindert. Sie wandten dieses Wissen im Herbst 2008 und 2009 an, weswegen es auch lediglich zu einer Großen Rezession kam.
Angst vor hohen Defiziten
Aber im Gegensatz zur Überzeugung Samuelsons werden die Regierungen von Ängsten vor großen Haushaltsdefiziten geplagt. Mit wenigen Ausnahmen waren sie nicht darauf vorbereitet, ihre Ökonomien mit Hilfe der Fiskalpolitik aus der Stagnation nach der Krise zu bugsieren. Vielmehr verließ man sich auf monetäre Expansion, die zwar politisch leichter akzeptiert wird, in ihren Auswirkungen jedoch viel schwächer ist, weil sie – genau wie von Keynes vorhergesagt – von vielem, das sich „zwischen dem Becher und den Lippen ereignen kann“, untergraben wird.
Von noch größerer Bedeutung ist, dass sich die Regierungen vom Ziel der Vollbeschäftigung verabschiedet haben. Aus diesem Grund sind auch alle Ansätze einer interventionistischen Politik auf der Strecke geblieben, von denen man zuvor annahm, sie seien notwendig, um die Wirtschaft in ruhigem Fahrwasser zu halten. Die Neue Ökonomie mag zeitweilig wiederbelebt werden, um extreme Situationen zu bewältigen, aber die politischen Entscheidungsträger treffen keinerlei Vorkehrungen, um zu verhindern, dass diese extremen Situationen überhaupt entstehen. Wie das bei gleichzeitiger Erhaltung der Freiheit und der Effizienz zu bewerkstelligen wäre, ist heute die „ungelöste Problematik der modernen Ökonomie.”
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier
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