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Kolumne Der Europatest

Endlich einmal geht wieder jemand für die EU statt gegen sie auf die Straße. Doch der Aufstand der Ukrainer ist für Europa kein Grund zur Freude. Von Ines Zöttl
Ines Zöttl
Ines Zöttl schreibt an dieser Stelle über internationale Wirtschafts- und Politikthemen.
© Trevor Good

Normalerweise geht Europa so: Die Elite ist dafür, die Bürger folgen allenfalls widerstrebend. Wenig von dem, was die Politiker in den vergangenen Jahren in Brüssel zur Integration der EU und für die Euro-Rettung beschlossen haben, löste an der Basis Begeisterung aus. Stattdessen gab es häufiger mal wütende Proteste.

In der Ukraine wird diese Regel gerade auf den Kopf gestellt: Hier entscheidet die Regierung gegen Europa – und treibt damit das enttäuschte Volk auf die Straße. Klingt wie der wahr gewordene Traum der europäischen Idee. Entsprechend empathisch fallen die Reaktionen im Europaparlament aus.

In Wirklichkeit ist das, was derzeit in der Ukraine passiert, ein Albtraum für alle Beteiligten. Der Kampf zwischen Russland und Europa um Einflusssphären im postsowjetischen Raum ist offen und hässlich ausgebrochen. Die Spaltung der Ukraine in einen pro-westlichen und einen pro-russischen Bevölkerungsteil wird sich vertiefen, egal wie der derzeitige Konflikt um West- oder Ostbindung ausgeht.

Janukowitsch wurde gewählt

Und selbst die Demonstrationen sind eine zweischneidige Sache. Die Europäer stehen in der Sache verständlicherweise auf Seiten der Opposition. Zu Recht verlangen sie von der Regierung, auf Gewalt zu verzichten.

Aber diese Haltung muss auch für die andere Seite gelten: Demonstrationen gegen Regierungspolitik sind legitim, solange sie friedlich sind. Das Errichten von Barrikaden in den Straßen und Besetzung des Regierungsviertels gehören nicht zum zulässigen Protestrepertoire.

Genauso wenig wie die ultimativ gestellte Forderung nach Neuwahlen. Präsident Viktor Janukowitsch hat sich in der Vergangenheit nicht als lupenreiner Demokrat erwiesen, seine Regierungsführung folgt auch nicht getreu dem Handbuch der Good Governance. Aber er ist kein Diktator, gegen den eine Revolution geführt werden muss. Die Ukrainer haben ihn ins Amt gewählt.

Auch internationale Beobachter haben ihm bescheinigt, dass er die Präsidentschaftswahl 2010 auf saubere Weise gewonnen hat. Und: Diesen Sieg hat er dem politischen Versagen der Opposition nach der Orangen Revolution 2004 zu verdanken. Sie darf ihn nun nicht auf der Straße zurückholen.

EU wird unattraktiver

Die EU sollte sich von den proeuropäischen Protesten nicht täuschen lassen: Ihre Anziehungskraft schwindet. Die Zeit, in der sich die Beitrittsländer vor der Tür drängten und um Einlass bettelten, ist vorbei. Nach wie vor wollen viele in die EU – aber nicht mehr zu jedem Preis.

In der Vergangenheit konnte die EU die Bedingungen für eine engere Anbindung diktieren, das heißt schmerzhafte aber notwendige Reformen in den Beitrittsländern erzwingen. Diese fügten sich, weil sie überzeugt waren, im Gegenzug Stabilität und wirtschaftliche Prosperität zu bekommen. Bestes Beispiel ist die Türkei: Die Beitrittshoffnung hat dort einen Modernisierungsschub ausgelöst. Aber das Interesse schwindet. Die EU ist nicht mehr der Leuchtturm für die Fahrt in eine bessere Welt.

Janukowitschs offenes Lavieren zwischen EU und Russland, seine unverbrämte realpolitische Kalkulation, hat die Europäer schockiert. Aber in weniger extremer Form stellt jedes Beitrittsland eine ähnliche Kalkulation an: Was sind die Kosten, was der Nutzen? Je schlechter die EU dasteht, desto stärker verschiebt sich das Kräfteverhältnis.

Nicht einmal in der Ukraine, die nun die Herzen der Europäer höher schlagen lässt, ist das Bild eindeutig. Nach Umfragen sind gut die Hälfte der Bürger für eine EU-Intergration, mal etwas mehr, mal weniger. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern mag das viel sein. Aber trotzdem ist es eben nur die Hälfte.

E-Mail: Zoettl.Ines@capital.de

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