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Bernd Ziesemer Das neue Zeitalter der Unsicherheit

Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
© Martin Kress
Selten war es so schwierig in die Zukunft zu schauen wie heute. Das überfordert die Menschen – und vor allem auch Investoren und Unternehmen

Das „Zeitalter der Nervosität“ – so nannte der Historiker Joachim Radkau die Jahre zwischen 1880 und 1933. Die Spannung zwischen beschleunigter Modernisierung und alten Lebensgewohnheiten, zwischen industrieller Dynamik und weit verbreiteter Zukunftsangst, zwischen Reizüberflutung und Ruhebedürfnis, zwischen Krisenangst und Kriegsbegeisterung habe die Deutschen damals immer mehr überfordert. Vielleicht werden die Geschichtsexperten die Ära, in der wir gerade leben, im Nachhinein mit einem ähnlichen Begriff beschreiben – vielleicht als Zeitalter der Unsicherheit. Und falls ja, werden sie die Weltfinanzkrise 2008/09 mit ziemlicher Sicherheit als Ausgangspunkt ihrer Beschreibung wählen und die beiden Kriege in der Ukraine und in Israel 2022 und 2023 als entscheidende Wegmarken diese Epoche definieren.

Wir leben in Zeiten einer beschleunigten technologischen Entwicklung, die weite Bereiche der Wirtschaft verändert. Der Einzug der künstlichen Intelligenz, der Abschied von den fossilen Energien, die Anpassung an den Klimawandel berühren so gut wie jede Branche und damit auch so gut wie jeden Beschäftigten. Gleichzeitig geraten die alten Sozialsysteme und die Verwaltungen der Städte an den Rand ihrer Möglichkeiten durch den Zustrom von Flüchtlingen. Die Kriege in unmittelbarer Nachbarschaft Mitteleuropas zwingen uns zu einer „Zeitenwende“ (Olaf Scholz). Der Aufstieg der Weltmacht China, die sich nach außen immer aggressiver verhält und nach innen immer angeschlagener wirkt, stellt das weltpolitische Gleichgewicht der vergangenen drei Jahrzehnte infrage.

Und es ist nicht nur die Ballung und komplexe Verknotung all dieser Probleme an sich, die viele Menschen überfordert. Es sind vielmehr die Plötzlichkeit und Unvorhersehbarkeit dieser Entwicklungen, die uns verunsichern. Niemand sah den Überfall auf die Ukraine kommen, niemand den Einmarsch der Hamas-Terroristen in Israel. Plötzliche Naturkatastrophen als Folge des Klimawandels, plötzliche Fluten von Flüchtlingen, plötzliche Krisenherde in Afrika und anderswo, plötzliche Wellen der Gewalt an vorher friedlichen Orten. Und das alles in Realtime auf unseren Handys zu beobachten, aber nur sehr schwer für uns einzuordnen. Meldungen aus der Mitte des Geschehens wechseln sich ab mit perfekt gemachten Fake-News, die zu einem wichtigen Mittel des weltweiten Informationskriegs geworden sind.

Ständige Reizüberflutung

Noch viel stärker als in Radkaus „Zeitalter der Nervosität“ leiden wir heute unter ständiger Reizüberflutung. Und die Radikalisierung am Rand unserer Gesellschaft erklärt sich paradoxerweise zum Teil auch aus dem Ruhebedürfnis, der Suche nach einfachen Lösungen für die komplexen Probleme vor unseren Augen. „Lasst uns doch in Ruhe!“, lautet der eigentliche Kampfruf vieler AfD-Anhänger gerade im Osten.

Nie war es so schwierig in die Zukunft zu schauen wie heute. Das gilt vor allem auch für Unternehmer und Investoren. Der vielleicht beste Rat, den man Anlegern heute in dieser chaotischen Gemengelage erteilen kann, lautet deshalb schlicht und einfach: Bereite Dich so gut wie möglich auf plötzliche Ereignisse vor, verteile die Risiken noch breiter als ohnehin schon, misstraue alten Gewissheiten und den Propheten des Alles-ist-doch-ganz-klar. Den berühmten „schwarze Schwan“ des Nassim Nicholas Taleb – Synonym für das Auftreten höchst unwahrscheinlicher Ereignisse – sieht man mittlerweile überall.

Bernd Ziesemer ist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint regelmäßig auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf X folgen.

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