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Kolumne Das Ende der fetten Jahre? Noch nicht

Eine Mitarbeiterin bei Continental hält in der Produktion der Leistungselektronik für Elektrofahrzeuge eine Leiterplatte mit der Steuerungs-Elektronik in der Hand.
Eine Mitarbeiterin bei Continental hält in der Produktion der Leistungselektronik für Elektrofahrzeuge eine Leiterplatte mit der Steuerungs-Elektronik in der Hand.
© dpa
Der Abgesang auf Deutschland kommt zu früh. Trotz aller Schwierigkeiten steht das Land gut da und hat weitere gute Jahre vor sich. Holger Schmieding über die wirtschaftliche Stärke der größten europäischen Volkswirtschaft

Brexit, Handelskriege, Dieseldesaster und jetzt auch noch ein Steuerminus. Aus dem In- und Ausland prasseln die schlechten Nachrichten nur so auf uns ein. Kein Wunder, dass manch voreiliger Beobachter die bange Frage stellt: Sind die guten Jahr für Deutschland schon vorbei? Die Antwort ist etwas zwiespältig aber insgesamt doch eher beruhigend. Konjunkturell sind wir raues Fahrwasser geraten. Strukturell leistet sich unsere konsensduselige Sozialpolitik einige Fehler, die uns gerade bei der Rente auf Dauer teuer zu stehen kommen werden. Aber unsere Ausgangslage ist weiterhin so gut, dass wir selbst das noch für einige Zeit ganz gut verkraften können. Noch müssen wir uns nicht wirklich auf magere Zeiten einstellen. Mit einer besseren Politik könnten wir die fetten Jahre sogar durchaus noch verlängern.

Etwa einmal im Jahr analysiert Berenberg die Wirtschaft aller 28 Mitgliedsländer der Europäischen Union . Wir schauen sowohl auf den Zustand als auch auf die Anpassungsfortschritte – oder Rückschritte – der letzten fünf Jahre. Für Europa insgesamt sind die Ergebnisse alles in allem ermutigend. Trotz mancherlei Defizite sind nahezu alle Länder der EU besser für künftige Krisen gerüstet, als sie das 2007 vor der großen Finanzkrise oder 2013 am Ende der Euro-Krise waren. Gerade Deutschland schneidet in unserem Ranking recht gut ab. Nach den Niederlanden kommt Deutschland auf Platz zwei für seine fundamentale Stärke. Mit satten Überschüssen im Staatshaushalt und der Leistungsbilanz und einem bärenstarken Arbeitsmarkt ist das Land für Krisen relativ gut gerüstet.

Das heißt nicht, dass Schocks von außen oder Probleme im Innern unsere Konjunktur nicht kurzzeitig aus dem Tritt bringen können. Wir erleben ja aktuell, dass die ausfuhrorientierte Industrie seit dem vergangenen Herbst sogar in eine Rezession gerutscht ist. Aber Deutschlands fundamentale Stärke spricht dafür, dass es nach einem Abflauen der zeitweiligen Störfaktoren schnell wieder nach oben gehen kann. Auch von der großen Finanzkrise 2008/2009 hatte sich Deutschland besser erholt als nahezu alle anderen Länder der westlichen Welt.

Deutschland bietet hervorragende Bedingungen

Aktuell zeigt sich die fundamentale Stärke darin, dass die Probleme der deutschen Industrie kaum auf andere Bereiche übergreifen. Der Bau boomt, im Handwerk und bei vielen Dienstleistungen werden weiterhin händeringend Arbeitskräfte gesucht. Da der Arbeitsmarkt von Rekord zu Rekord strebt, öffnen die Verbraucher im Vertrauen auf einen sicheren Arbeitsplatz gerne ihre Geldbörsen. Bisher deutet wenig darauf hin, dass sich dies in absehbarer Zeit grundlegend ändern wird.

Natürlich haben einige deutsche Wirtschaftszweige Probleme, die weit über einen konjunkturellen Rückschlag hinausgehen. Ob, wann und inwieweit es den deutschen Autoherstellern gelingen wird, sich auf neue Mobilitätsformen einzustellen , wage ich als Volkswirt nicht abschließend zu beurteilen. Aber darauf kommt es für unser Land auch nicht an. Deutschland bietet mit seinen Facharbeitern und Ingenieuren, seiner Rechtssicherheit und Infrastruktur sowie der Partnerschaft seiner Tarifvertragsparteien und seiner im internationalen Vergleich eher langweiligen politischen Stabilität weiterhin hervorragende Bedingungen für die groß angelegte Fertigung industrieller Spitzenprodukte. Sollten in Deutschland ansässige Konzerne den technologischen Wandel verschlafen, werden andere die deutschen Standortvorteile nutzen. Vielleicht würden dann an Fabrikhallen rund um Stuttgart oder in München ausländische Logos prangen. Aber Deutschlands industrielles Ökosystem würde nicht brachliegen. Auch die Londoner City ist auch deshalb ein riesiger Wirtschaftsfaktor, weil vor allem ausländische Finanzfirmen die – bisher noch – guten Londoner Standortbedingungen zu nutzen wissen.

Kasse macht sinnlich. Wem es ohnehin schon gut geht, dem fällt es schwer, sich zu weiteren Anstrengungen aufzuraffen. Auch das zeigen unsere Ergebnisse für Deutschland. Bei den zusätzlichen Anpassungsfortschritten der letzten fünf Jahre ist unser Land ins untere Mittelfeld innerhalb der EU abgerutscht hinter Frankreich. Gerade in Frankreich gibt es Anzeichen, dass das Land sich unter Präsident Emmanuel Macron so reformiert, dass es im kommenden Jahrzehnt Deutschland in Sachen Wachstumsdynamik abhängen könnte.

Wir müssen Maß halten

Aber dass andere Länder mit weit schlechterer Ausgangslage jetzt schneller vorankommen, heißt ja nicht, dass die guten Zeiten für uns vorbei sind. Ein erstarktes Frankreich wäre auch für uns ein besserer Handelspartner. Deutschlands Rückschritte sind bisher nicht so ausgeprägt, dass sie unseren Wirtschaftsstandort bereits nachhaltig und erheblich beeinträchtigen würden. Für ansehbare Zeit wird der Fachkräftemangel ein größeres Problem sein als Arbeitslosigkeit.

Viele unserer Sorgen im Wohnungsmarkt sind volkswirtschaftlich gesehen eher Luxusprobleme: Auch weil es uns so gut geht und so viele Menschen in unseren Städten wohnen wollen, steigen Preise und Mieten. Allerdings zeigt sich hier auch die falsche Reaktion der Wirtschaftspolitik. Sie sollte sich darauf konzentrieren, die Bedingungen für den Wohnungsbau zu verbessern und die Bahnverbindungen rasch so gut auszubauen, dass beispielsweise immer größere Teile der neuen Bundesländer zum Pendlergebiet für die boomenden Zentren Berlin und Leipzig werden. Stattdessen werden Bauherren eher Steine in den Weg gelegt.

Wirtschaftlich gesehen ist unsere Lage weiterhin so gut, dass wir nach dem jetzt langsam auslaufenden goldenen Jahrzehnt auch in der kommenden Dekade noch gute Zeiten genießen können jenseits aller Schwankungen der Konjunktur und der Problemen einzelner Branchen. Wenn wir Maß halten – also Respektrente nur bei echter Bedürftigkeit, Infrastruktur und Bildung vor Rentengeschenken, flexible Lösungen statt neuer Fesseln für den Arbeitsmarkt – müssen die fetten Jahre noch lange nicht vorbei sein. Und solange die Beschäftigung in solch einem Umfeld steigt, werden die Steuereinnahmen uns manchen Spielraum für gezielte Ausgaben oder Steuersenkungen lassen. Sollte die Politik sich jetzt unter dem Eindruck kurzzeitig schlechter Nachrichten dazu durchringen, endlich wieder Prioritäten zu setzen, statt nahezu alle Wünsche irgendwie zu bedienen, könnte die konjunkturelle Schwächephase in der Industrie letztlich sogar ihr Gutes haben.

Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank

Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank. Er schreibt hier regelmäßig über makroökonomische Themen.

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