Die Inflation in Europa nähert sich der Nullgrenze und ein Popanz erobert die Schlagzeilen: Es droht angeblich die Deflationsspirale durch eine wachsende Kaufzurückhaltung der Verbraucher, die lieber auf weitere Preissenkungen warten statt einzukaufen.
Nichts gegen eine Debatte über Deflationsgefahren. Aber wenn wir schon damit anfangen, dann sollten erst einmal die Pseudo-Argumente vom Tisch geräumt werden. Die Behauptung, dass ein Preisrückgang den privaten Konsum in den Gefrierzustand versetzen wird, ist ein solches Pseudo-Argument.
Es wird immer gern eingestreut, wenn auf die Schnelle erklärt werden soll, warum denn Deflation schädlich ist. Es ist aber weder besonders plausibel noch historisch gut belegt. Und es geht am Kern des Problems weit vorbei. Der lautet nämlich: Deflation begünstigt die Gläubiger und sie belastet die Schuldner. Was fatal werden kann in einer Welt, die in der großen Schuldenfalle steckt.
Phänomen „Lowflation“
In Deutschland lag die Inflationsrate im März immerhin noch bei einem Prozent, im Euro-Durchschnitt bewegt sie sich aber mit 0,5 Prozent schon weit unter der offiziellen EZB-Zielmarke von knapp zwei Prozent. In Spanien sind die Preise in den vergangenen zwölf Monaten sogar um 0,2 Prozent gefallen. „Lowflation“ hat die IWF-Chefin Christine Lagarde diese neue Mini-Inflation an der Schwelle zum Preisrückgang getauft.
Die beliebte Kurzerklärung der Gefahren geht nun so, dass bei den Verbrauchern das große Abwarten einsetzen könnte. Die Leute, so heißt es, gehen weniger einkaufen, weil ja morgen alles billiger wird. Woraufhin die Läden ihre Preise senken und noch mehr Leute zuhause bleiben. Woraufhin die Läden ihre Preise senken... und eine fürchterliche Abwärtsspirale in Gang kommt, die zum Kollaps des Wirtschaftslebens führt.
Diese Theorie klingt nicht nur ein bisschen schräg – sie ist es auch. Selbstverständlich reagieren wir alle heftig auf einmalige und deutliche Preisveränderungen. Vor jeder Mehrwertsteuererhöhung gibt es einen gesamtwirtschaftlich signifikanten Konsumschub (mit anschließendem Konsumloch) und wenn Rabatte erst ab einem Stichtag gelten, dann wartet mancher eben ab. Es sollen sogar mal Geburten verschoben worden sein, um den Anspruch auf das am 1. Januar 2007 neu eingeführte Elterngeld zu sichern.
Ein kontinuierlicher Rückgang des Preisniveaus um wenige Zehntelpunkte pro Monat ist aber etwas ganz Anderes. Er ist für die Verbraucher schon deshalb schwer einzuschätzen, weil die Inflationsrate ja für einen ganzen Warenkorb ermittelt wird. Selbst wenn der Index leicht sinkt, gibt es immer noch vieles, das teurer wird.
Von „Deflationspsychologie“ kann keine Rede sein
Bei manchen Produkten ergibt sich der offizielle Preisrückgang sogar nur daraus, dass die Statistiker Qualitätsverbesserungen einrechnen. Notebooks werden auch bei stabilen Preisen „immer billiger“, weil sie mehr Leistung bieten. Die Technik-Fans warten deshalb auf das neue Modell. Viele wollen aber einfach nur „ein Notebook“ und sie stellen fest, dass die Preise auf den Etiketten sich kaum ändern.
Wenn sinkende Preise einen Einfluss auf das allgemeine Konsumverhalten haben sollen, dann müssen sich schon die Preiserwartungen der Verbraucher auf breiter Front verändern. Das Thema Inflation muss tatsächlich aus den Köpfen verschwinden und die Leute müssen davon ausgehen, dass sich jetzt ein vermehrtes Sparen lohnt, weil die Kaufkraft des Geldes steigt.
Von einer solchen „Deflationspsychologie“ kann heute aber überhaupt keine Rede sein. Eher gilt das Gegenteil: Die Sparzinsen sind lächerlich niedrig und von einem dauerhaften Ende der Inflation redet niemand.
Das Teuerungsempfinden der Verbraucher wird schließlich vor allem davon geprägt, was sie bei ihren häufig wiederkehrenden Einkäufen auf den Tisch legen müssen. Die Preise auf dem Wochenmarkt, in den Supermärkten, in den Gaststätten und an der Tankstelle sind für die „gefühlte Inflation“ sehr viel wichtiger als die Preise für Neuwagen und Notebooks.
Krisenländer leiden unter niedriger Inflation
In Deutschland haben sich Lebensmittel und Getränke zuletzt noch immer mit einer Jahresrate von über drei Prozent verteuert. Heizöl und Sprit wurden zwar billiger, aber dass sich darin ein neuer Langfrist-Trend zeigt, dürfte kaum jemand glauben. Im Gegenteil: Es ist fast schon ein gesellschaftlicher Glaubenssatz, dass die Energie auf lange Sicht ständig teurer werden wird.
Dass stagnierende oder leicht fallende Preise automatisch in den Verbraucherstreik führen ist auch nicht einmal historisch klar belegt. In Japan, dem modernen Musterbeispiel für die Schädlichkeit von Deflation, ist die Sparquote der privaten Haushalte seit den 90er Jahren drastisch gesunken und liegt heute nur noch knapp über Null.
Das hat auch demographische Gründe. Aber das eigentliche Problem der japanischen Wirtschaft liegt bei der Investitionszurückhaltung der Unternehmen. Bei fallenden Absatzpreisen lohnen sich Investitionen eben nur, wenn sie erhebliche Rationalisierungsvorteile bieten. Und es wird mühsamer, Zinslasten aus Krediten zu tilgen.
Deflationsgewinner sind stets die Gläubiger, deren Ansprüche wertvoller werden. Deflationsverlierer sind die Schuldner, die ohnehin schon in großen Schwierigkeiten stecken. Diese tendenzielle Umverteilung ist zurzeit der eigentlich brisante Effekt der „Lowflation“.
Viele Ökonomen und Wirtschaftspolitiker hatten in den vergangenen Jahren darauf gesetzt, dass die drückende Schuldenlast in Europa wenigstens teilweise einfach sanft zu Lasten der Gläubiger hinweg inflationiert wird. Niedrige oder gar negative Teuerungsraten bewirken aber genau das Gegenteil: Sie erhöhen die reale Zinslast und sie erschweren es den Krisenländern erheblich, den Schuldenstand relativ zur nominalen Wirtschaftsleistung zu senken.
Es ist ja verständlich, dass Notenbanker und Politiker höchst ungern über diese Umverteilungseffekte von Inflation und Deflation reden. Die statt dessen so gerne ausgemalte Käuferstreik-Deflation ist aber nur ein Ammenmärchen.