Der Ort, an den Christian Reber vor der Erschöpfung geflohen ist, wirkt wie ein kleines Paradies. Am Rande eines ansonsten trostlosen Industriegebiets südwestlich von Palma de Mallorca liegt „The Circle“, ein todschicker Coworking-Bau, den ein deutscher Immobilienentwickler im Stile eines Silicon-Valley-Büros hochgezogen hat; mit bepflanzten Innenwänden, Hipster-Cafeteria und einem Hof mit Olivenbäumen. Reber hat ein winziges Zweierbüro direkt hinter dem Empfang gemietet, das er sich mit seiner Frau teilt. Hier verbringt er jetzt seine Arbeitstage. Reber empfängt in Hoodie und einer dieser schlichten schwarzen Chinos, die sich nur beim näheren Hinsehen als Jogginghosen entpuppen.
Christian Reber ist mit seiner Familie im vergangenen Jahr auf die Insel gezogen, wie viele andere deutsche Unternehmer auch. Er brauchte, so sagt er, einen Tapetenwechsel nach 16 Jahren in Berlin. Das ist die eine große Veränderung. Die andere ist, dass er seine Arbeitstage im „Circle“ um 9 Uhr beginnt und um 16 Uhr beendet. Dann holt er die Kinder aus der Schule und widmet sich dem Familienleben und seinen Hobbys, Wandern oder neuerdings Padel-Tennis.
Klingt nach einem eigentlich recht normalen Arbeitstag? Nicht für einen Seriengründer wie Christian Reber. Der Mittdreißiger mit dem brandenburgischen Akzent, der so laut und ansteckend lachen kann, war bis vor Kurzem CEO einer der wichtigsten deutschen Start-up-Hoffnungen, des Powerpoint-Angreifers Pitch. Mit einer Bewertung von 600 Mio. Dollar gehörte die Firma zu den nächsten Unicorn-Kandidaten. In der Spitze hatte Reber 200 Angestellte – und häufig 14-Stunden-Arbeitstage, von 8 bis 22 Uhr.
Vor wenigen Wochen aber gab er seinen Rückzug bekannt. Ein ungewöhnlicher Schritt, der Aufsehen erregte – auch, weil Pitch gleichzeitig 80 Mitarbeitern kündigte und seine Investoren zu großen Teilen ausbezahlte, um in Zukunft ohne Risikokapital und aus eigener Kraft behutsam zu wachsen. Aber ohne Reber. Der schrieb auf Linkedin: „Ich brauche eine Pause.“
Ein unmoralisches Angebot
Was sich hinter den Kulissen abgespielt hatte, darüber konnte nur gemutmaßt werden. Gegenüber Capital macht Reber nun reinen Tisch, berichtet, wie die letzten Jahre für Pitch und ihn als Gründer verliefen – und warum er sich letztlich für den Rückzug entscheiden musste. Es ist eine Geschichte über den beispiellosen Techboom der frühen 2020er-Jahre, als Geld nichts kostete und die Nachfrage endlos schien, über den dann folgenden Abschwung aufgrund von Krieg, Inflation und hohen Zinsen – und über den Preis, den Gründer bei solchen Achterbahnfahrten persönlich zahlen, mit ihrer Psyche, mit ihrer Gesundheit.
2023, das Jahr, in dem Reber mit seiner Familie nach Mallorca fliehen wird, beginnt mit seinem Zusammenbruch. Er erzählt:
Ich habe meinem Team nur gesagt, ich kann nicht mal mehr mit meinen Kindern am Esstisch sitzen. Ich bin völlig fertig, kriege Panikattacken, kann nicht mehr schlafen, ich bin total durch. Ich brauche mal eine Auszeit. Ich habe dann selbst für mich beschlossen, in eine Klinik zu gehen, um meinen Burn-out behandeln zu lassen.
Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, muss man noch weiter zurückgehen, ins Frühjahr 2021. Pitch ist gerade sechs Monate auf dem Markt, als Reber ein fast unmoralisch gutes Angebot bekommt. Der Techboom ist zu der Zeit fast auf dem Höhepunkt, Investorengelder fließen in nie gekannten Mengen, und der Gründer kann für sein Start-up ohne große Mühen die irrwitzige Summe von 85 Mio. Dollar einsammeln. Dabei hatte er ursprünglich sogar überlegt, Pitch ganz ohne Investoren aufzubauen, nur finanziert aus seinem eigenen Vermögen. Es wäre ein bescheidenes, schlankes Unterfangen gewesen, keine jener Start-up-Unternehmungen, die aufgepumpt mit Investorenmillionen auf Highspeed die Welt erobern.
Doch die Verlockung ist zu groß. Angeführt von Tiger Global, dem zu der Zeit aktivsten Risikokapitalgeber der Welt, drängen die Geldgeber Reber die Firmenbewertung von 500 Mio. Dollar auf. Und Reber tut, wie ihm befohlen: Er beschleunigt das Wachstum, stellt Leute ein, dreht das große Rad. „Let’s go big or go home“ ist seine Parole.
Die Welt ist eine andere
Anderthalb Jahre später, im Herbst 2022, ist die Welt eine andere. In der Ukraine tobt Krieg, die Energiekosten sind in die Höhe geschossen, der Wirtschaft droht eine Rezession. Die Wachstumspläne von Pitch sind Makulatur. Und die Flut an Risikokapital, sie ist komplett versiegt. Reber muss reagieren, es gilt, die sogenannte Runway zu verlängern – den Zeitraum, für den das Geld reicht. Es gibt die erste Entlassungsrunde für Pitch: 60 Mitarbeitern wird gekündigt. „Brutal“ ist das Wort, das Reber im Rückblick dazu einfällt. „Ich habe geheult wie ein Schlosshund.“
Es hieß dann: ,Okay, Christian, du hast entschieden, die Firma um ein Drittel zu verkleinern. Sag uns jetzt bitte, wie wir weitermachen.‘ Ich hätte antworten müssen: ,Scheiße, ganz ehrlich, ich weiß es nicht, das überfordert mich.‘ Aber ich habe es nicht laut gesagt. Stattdessen habe ich für die nächste Woche ein Meeting zur Produktstrategie einberufen. Und dann saß ich zu Hause, schon völlig entkräftet, und habe versucht, mir die Strategie neu auszudenken. Und dann gemerkt: Ich kann’s nicht mehr. Wenn du gewohnt bist, in einer Führungsposition zu sein, und merkst, dass es nicht mehr geht, dann bricht alles mit einem Mal zusammen. Wie ein Kartenhaus.