Die gestiegenen Preise für Rohstoffe wie Gas oder Öl sind offenbar nicht das Einzige, was Verbraucher zunehmend verzweifeln lässt. Auch die immer teureren Grundnahrungsmittel bereiten Probleme, weil sie große Löcher ins Budget der Privathaushalte reißen. Offenbar ist die Belastung inzwischen so groß, dass sie sich auch in der Bilanz von Ladendiebstählen bemerkbar macht. Große Ketten in Großbritannien ergreifen bereits Maßnahmen gegen die Raubzüge in ihren Supermärkten.
In vielen britischen Geschäften werden Butter, Käse und Babymilch wegen des zunehmenden Schwunds seit Kurzem mit Sicherheitsetiketten und kleinen elektronischen Kunststoff-Safes ausgestattet, die am Ladenausgang Alarm schlagen, wenn die Waren nicht bezahlt wurden. Bislang kannten Konsumenten solche Vorkehrungen nur von Höherpreisigem wie Alkohol, Parfüm oder Elektronikartikeln.
In den sozialen Medien finden sich Posts mit Fotos von Cheddarkäse in Aldi-Regalen oder Dosen mit Babymilch bei Tesco und Sainsbury, die vor Diebstahl gesichert wurden. Besonders viel Aufmerksamkeit erhält der Anti-Klau-Schutz, den Sainsbury einer leicht gesalzenen Butter namens Lurpak verpasst hat, die in Großbritannien in Millionen Haushalten auf den Tisch kommt. Laut „Daily Mail“ liegt der Kilopreis hier mittlerweile bei fast 10 Pfund – umgerechnet knapp 12 Euro. Daten der Vergleichsseite trolley.co.uk zeigen, dass der Preis für eine 500-Gramm-Standardpackung Lurpak damit im vergangenen Jahr um etwa 2,25 bis 5 Pfund gestiegen ist.
Höchste Inflationsrate aller Industrienationen
Besonders alarmierend ist eine Diebstahlsicherung des britischen Einzelhandelsunternehmens Morrisons, das laut „Independent“ Multivitamine für Kinder zu 8,50 Pfund elektronisch vor Langfingern sichert. Offenbar gab es auch hier zuletzt auffällig viel Schwund in den Regalen. Hintergrund könnte die Befürchtung von Eltern sein, dass die hohen Preise die Qualität von britischem Schulessen gefährden. Caterer warnten erst kürzlich vor einer schlechteren Qualität. Dutzende Unternehmen müssten Preiserhöhungen von 20 bis 30 Prozent für viele Produkte stemmen, zitierte die BBC den Branchenverband Laca. Die Kosten machten es unmöglich, wie gehabt weiterzumachen.
In England sind alle Kinder bis zum Ende des zweiten Schuljahres zu kostenlosen Mittagessen berechtigt, von der dritten Klasse an ausschließlich Kinder aus sehr einkommensschwachen Familien. Insgesamt erhalten derzeit etwa 1,9 Millionen Schüler kostenlose Schulessen, das sind 160.000 mehr als im Januar 2021.
Großbritannien ist mit der schlimmsten Inflation seit 40 Jahren konfrontiert. Im Mai lag die Teuerung 9,1 Prozent über dem Vorjahreswert. Im Februar 1982 wurden 10,2 Prozent Inflation registriert. Allein die Lebensmittel verteuerten sich um 11 Prozent. Unter den großen Industrienationen hat die Insel damit die höchste Inflationsrate. Zum Vergleich: Für Deutschland wurde im Berichtsmonat Mai 7,9 Prozent auf Jahresbasis gemeldet. Angesichts der explodierenden Lebenshaltungskosten könnten nach Einschätzung von Forschern Millionen Haushalte in Großbritannien in Armut und Schulden rutschen.
Höhere Kriminalitätsrate erwartet
Auch Sainsbury-Chef Simon Roberts sieht die Entwicklung im weiteren Jahresverlauf pessimistisch. Der Druck auf die Haushaltsbudgets werde angesichts der Inflation „nur noch zunehmen“. „Wir verstehen wirklich, wie schwer es derzeit für Millionen von Haushalten ist, deshalb investieren wir 500 Millionen Pfund und tun alles, um unsere Preise niedrig zu halten, insbesondere für die Produkte, die Kunden am häufigsten kaufen.“
Die britische Kette Co-op hatte jüngst über einen Kunden berichtet, der unter anderem Fleisch, Kaffee und Eiscreme im Wert von mehr als 400 Pfund aus drei Geschäften geklaut hatte. Der Mann erhielt Hausverbot. Die Polizei rechnet mit einem weiteren Anstieg der Kriminalitätsrate. Die Beamten sollten nach eigenem Ermessen entscheiden, ob sie Menschen strafrechtlich verfolgen, die stehlen, um zu essen, appellierte der neue britische Chefinspektor Andie Cooke.
Die Käufer seien zu Recht beunruhigt, zitiert der „Independent“ den Verbraucherschützer Marc Gander von der Consumer Action Group. Gleichzeitig mahnt er aber auch, sie sollten „besser aufhören, schockiert zu sein“. Es gebe „viele Alternativen, einschließlich Eigenmarken, die sehr viel billiger sind“. „Es ist ein Rätsel, warum Lurpak fast 10 Pfund kosten muss, wenn Eigenmarken oft etwa die Hälfte dieses Betrags kosten.“
Dieser Artikel ist zuerst auf n-tv.de erschienen.