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Kolumne Brexit-Chaos in London: Was wäre wenn?

Die britische Premierministerin Theresa May gibt vor ihrem Amtssitz Downing Street No. 10 ein Statement ab
Die britische Premierministerin Theresa May gibt vor ihrem Amtssitz Downing Street No. 10 ein Statement ab
© No. 10 / CC BY-NC-ND 2.0 / Flickr
Die britische Premierministerin Theresa May hat sich mit ihrem Brexit-Deal in eine schwierige Lage manövriert. Holger Schmieding erklärt, welche Optionen beim geplanten EU-Austritt den Briten jetzt noch bleiben

Der Entwurf eines Brexit-Vertrages zwingt die heillos zerstrittenen Briten, sich zu entscheiden: Können sie sich noch auf eine halbwegs rationale Strategie verständigen - oder steuern sie ihr Land in einer ausufernden politischen Krise sehenden Auges auf den Abgrund eines ungeordneten Brexit zu?

Bei allem Lärm spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Turbulenzen letztlich glimpflich enden werden. Großbritannien wird entweder dem vorliegenden Scheidungsvertrag zustimmen oder sich nach erheblichen politischen Wirren noch enger als geplant an die EU binden. Selbst ein neues Referendum, das den Brexit in letzter Minute noch absagen könnte, ist denkbar. Das Risiko eines ungeordneten Austritts, der Großbritannien in eine Rezession stürzen und auch den Kontinent erschüttern könnte, dürfte bei nicht mehr als 20 Prozent liegen.

Bisher kam es, wie es kommen musste. Nach langem Zögern hat Premierministerin Theresa May einem Scheidungsvertrag zugestimmt, bei dem sich die wirtschaftlich viermal größere EU27 auf nahezu ganzer Linie durchgesetzt hat. Da Großbritannien beim Austritt aus der EU eine der vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes, die Freizügigkeit für Arbeitnehmer, einschränken möchte, verliert es im Gegenzug den freien Zugang zum Markt für Dienstleistungen der EU. Nach Ende der Übergangsfrist wird hier die EU de facto die Bedingungen des künftigen Austausches vorgeben.

Solidarität mit Irland

Zur großen Überraschung der englischen Hardliner ist Brüssel auch keinen Deut von der Forderung abgewichen, dass zumindest Nordirland im EU-Binnenmarkt für Güter verbleiben muss, damit zwischen Nord- und Südirland keine harte Grenze mit Kontrollen für Waren errichtet werden muss. Beim größten Streitpunkt, der inneririschen Grenze, hat die EU27 ihr ganzes Gewicht in die Waagschale geworfen, um das vitale Interesse des kleinen Mitgliedstaates Irland zu schützen. So etwas nennt man Solidarität.

Sofern und solange London Zollkontrollen zwischen dem britischen Nordirland und dem Rest des eigenen Landes vermeiden will, muss somit das gesamte Vereinigte Königreich in der Zollunion der EU bleiben. Die von den Brexiters ersehnte Freiheit, mit anderen Ländern künftig eigene Handelsabkommen abschließen zu können, ist damit kaum etwas wert. Kein Wunder, dass die Hardliner, die offenbar auf ihre eigenen Fantasie-Versprechen hereingefallen waren, jetzt den Aufstand planen.

Die arg gebeutelte Premierministerin Theresa May muss in den nächsten Wochen zwei Hürden nehmen. Zunächst droht ihr ein Misstrauensvotum innerhalb ihrer eigenen Parlamentsfraktion. Die 48 Unterschriften konservativer Abgeordneter, die ein solches Votum auslösen, dürften ihre Gegner wohl beschaffen können. Aber dass die Mehrheit der 315 Tories im Unterhaus die Dame mit den Leopardenpumps tatsächlich stürzen will, ist recht unwahrscheinlich. Die schweigende Mehrheit ist eher auf ihrer Seite. Für May hätte ein mögliches Misstrauensvotum sogar einen wichtigen Vorteil: Scheitert der Putschversuch, könnte sie ein ganzes Jahr lang nicht erneut herausgefordert werden.

Es wird eng im Unterhaus

Wesentlich schwieriger wird es für sie, die zweite Hürde zu überstehen. Im Unterhaus hat ihre Regierung einschließlich der zehn Abgeordneten der nordirisch-protestantischen DUP nur einen hauchdünnen Vorsprung von sieben Stimmen jenseits der einfachen Mehrheit. Da die DUP und bis zu 50 Konservative drohen, gegen den Brexit-Vertrag zu stimmen, braucht sie Hilfe von Teilen der ähnlich zerstrittenen Opposition. Angesichts der Alternative eines politischen Chaos werden einige verantwortungsbewusste Labour-Parlamentarier ihr wohl unter die Arme greifen. Selbst bei Labour möchte nicht jeder das Risiko eingehen, dass Neuwahlen den umstrittenen Linksausleger Corbyn an die Macht bringen könnten.

Aber es wird eng. Mays Chancen, ihr Abkommen durch das britische Parlament zu bringen, dürften nur knapp über 50 Prozent liegen. Was wäre, wenn sie im ersten Anlauf im Dezember und in einem möglichen zweiten Anlauf Anfang Januar scheitert?

Die britische Bevölkerung ist gespalten. Eine knappe Mehrheit ist Umfragen zufolge angesichts des ganzen Brexit-Schlamassels mittlerweile für den Verbleib in der EU. Ein ganz harter Brexit entspricht sicher nicht dem Willen der meisten Bürger. Im Unterhaus ist die Mehrheit der Abgeordneten über alle Parteigrenzen hinweg gegen den Ausstieg oder zumindest gegen den harten Brexit. Gebunden an die jeweilige Parteidisziplin in Regierung und Opposition und geprägt vom Ausgang des Referendums vom Juni 2016 kann sich diese Mehrheit derzeit nicht formieren. Wenn aber der Brexit-Vertrag scheitert , weil zu viele konservative Abgeordnete sich gegen die eigene Regierung stellen, können sich die Fronten auflockern.

Infographic: Scant public support for the draft Brexit agreement | Statista

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Drei Alternativen

Es ist zwar möglich aber doch nicht wahrscheinlich, dass die Mehrheit der Abgeordneten nach einem „Nein“ zu Mays Vertrag dann fast drei Monate tatenlos zusehen würde, wie das Land auf den Abgrund eines ungeordneten Brexits am 29. März 2019 zusteuern würde. Denkbar sind stattdessen drei Alternativen:

  • Erstens könnte eine überparteiliche Mehrheit im Parlament die Regierung beauftragen, einen neuen Vertrag mit der EU auszuhandeln, der Großbritannien etwa nach dem norwegischen Modell im Binnenmarkt der EU hält. Dies wäre - ohne Parteidisziplin - im Unterhaus wohl mehrheitsfähig.
  • Zweitens könnte das Parlament die Frage an die Bevölkerung zurückgeben und ein neues Referendum ansetzen.
  • Drittens könnten mögliche Neuwahlen angesichts des Chaos unter den Konservativen eine Labour-geführte Regierung an die Macht bringen, die dann entweder das Norwegen-Modell mit der EU aushandeln oder ein neues Referendum ansetzen würde. Dies würde zwar etwas Zeit in Anspruch nehmen. Aber letztlich würde die EU trotz der im Mai bevorstehenden Europa-Wahlen den Briten diese zusätzliche Zeit wohl zugestehen.

Ein ungeordneter Brexit wäre dagegen ein Schock für alle Beteiligten . Wenn nicht in letzter Minute noch eine Vielzahl kleiner Übergangsabkommen mit heißer Nadel gestrickt werden könnten, würde der Austausch von Gütern und Dienstleistungen über den Ärmelkanal nach dem 29. März 2019 einbrechen. Da Großbritannien nach den USA der wichtigste Handelspartner für die Eurozone ist, könnte auch unsere Wirtschaft für etwa ein halbes Jahr stagnieren.

Großbritannien müsste kurzfristig sogar mit einer Rezession rechnen. Auch wenn der erste Schock überwunden ist, dürfte das britische Trendwachstum danach nur noch bei etwa 1,4 Prozent statt bei 2,1 Prozent liegen, wie es vor dem Brexit-Votum der Fall war. Diese wenig erbaulichen Aussichten dürften dazu führen, dass die britische Politik doch noch einen Weg findet, dies zu vermeiden. In der Zwischenzeit kann es allerdings recht laut werden.

Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank

Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank. Er schreibt hier regelmäßig über makroökonomische Themen.

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