Da die schwache Nachfrage in den Industrieländern derzeit das Wachstum in den Schwellenländern bremst - auch das bedeutender Akteure in Asien und Lateinamerika - wird häufig argumentiert, die Ära der Einkommenskonvergenz hätte nun ihr Ende gefunden. Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein.
Wie ich bereits ausgeführt habe, wird sich der Prozess der Konvergenz zwischen realen Durchschnittseinkommen in den Schwellenländern und den Einkommen in den Industrieländern insgesamt wahrscheinlich bis in die 2020er Jahre fortsetzen. Seinen Ausgang nahm dieser Prozess in den späten 1980er Jahren und hielt seither unvermindert an, mit Ausnahme der Jahre rund um die Finanzkrise in Asien 1997 und 1998. Das Tempo der Konvergenz beschleunigte sich weiter während der globalen Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 und auch kurz danach: Die gesamte durchschnittliche Differenz des Einkommenswachstums pro Kopf stieg in den Jahren von 2008 bis 2012 auf über vier Prozentpunkte, wobei der entsprechende Wert zwei Jahrzehnte davor bei etwas mehr als zwei Prozentpunkten lag. Nun, da sich die Industrieländer erholen – so schwach diese Erholung auch ausfallen mag – wird sich die Wachstumsdifferenz wahrscheinlich wieder auf etwa zwei Prozentpunkte verringern. Das bedeutet jedoch noch immer eine stetige Konvergenz in annehmbarem Tempo.
In diesem Sinne ist es nicht „das Ende der Party“ auf den Schwellenmärkten, wie manche Anfang dieses Sommers behaupteten, als die Ankündigung einer möglichen Rücknahme der quantitativen Lockerung durch US-Notenbank-Chef Ben Bernanke in mehreren der anfälligen Schwellenländer eine „Mini-Krise“ auslöste. Diese Ökonomien haben seither einen beträchtlichen Teil ihres verlorenen Terrains im Hinblick auf Währungskurse und Vermögenspreise wieder zurückgewonnen.
Pessimismus in Lateinamerika
Ein großer Teil des wirtschaftlichen Konvergenzprozesses, der seit den späten 1980er Jahren stattfindet, geht auf „Aufholwachstum“ zurück. Die Schwellenländer schufen die für den Import und die Anpassung von Technologien benötigten Institutionen und Qualifikationsniveaus, was einfacher ist, als eine neue Technologie von Grund auf neu zu entwickeln. Das Tempo des Aufholwachstums sinkt mit der Zeit nur allmählich, da die weniger entwickelten Ökonomien sich langsam der Technologiegrenze annähern.
Dieser Aufholprozess findet auch innerhalb von Ländern statt, da die Arbeitskräfte von ländlichen Regionen mit niedriger Produktivität in städtische Gebiete höherer Produktivität wandern und weil Firmen niedriger Produktivität in allen Sektoren ihren höher entwickelten Pendants im eigenen Land nacheifern. Aufgrund zunehmender ausländischer Direktinvestitionen, der Informationsrevolution, die den Zugang zu Wissen ermöglichte, des zunehmenden Handels und der Globalisierung der Finanzmärkte wurde der Technologietransfer und die Verbreitung von Technologie außerdem in den letzten Jahrzehnten enorm erleichtert.
Diese Faktoren gelten für Schwellenländer im Allgemeinen. Warum aber scheinen lateinamerikanische Ökonomen dann eine eher vorsichtige – um nicht zu sagen pessimistische – Haltung gegenüber den Wachstumsaussichten und der Konvergenz in der Region einzunehmen, wohingegen die meisten asiatischen Ökonomen vollkommen überzeugt sind, dass der Konvergenzprozess in Asien in raschem Tempo weitergehen wird, obwohl sie einräumen, dass es weiterer Strukturreformen bedarf?
China ist ein Sonderfall
Für rasches Aufholwachstum bedarf es neben allgemein gültiger globaler Faktoren ausreichender Investitionen sowohl in Sach- als auch in Humankapital. Neue Fertigungstechniken und neue Produkte sowie Produktverbesserungen finden ihren Niederschlag üblicherweise in neuen Maschinen und Qualifikationen. In den Jahren von 2000 bis 2013 hat China im Schnitt etwa 43 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes investiert. Für die Schwellenländer Asiens ohne China, aber einschließlich Indiens lag dieser Wert im gleichen Zeitraum bei etwa 28 Prozent, während sich der Investitionsanteil in Lateinamerika auf lediglich 21 Prozent belief. Das alleine erklärt wahrscheinlich schon einen großen Teil des Unterschieds zwischen China, das eine Kategorie für sich bildet, sowie den Schwellenländern Asiens und Lateinamerikas. Die Qualität der Qualifikationen und der Ausbildung kann nicht durch eine Zahl angegeben werden, aber es gibt genügend Beweise, dass Lateinamerika auch im Hinblick auf erworbene Qualifikationen hinter einem Großteil der asiatischen Länder zurückbleibt.
Natürlich beeinflussen auch viele andere Faktoren Wachstum und Konvergenz: makroökonomische Stabilität, die Effizienz und Stabilität des Finanzsektors, Handelsbedingungen, die Qualität der öffentlichen Verwaltung sowie demographische und politische Faktoren. Außerdem bestehen Abweichungen innerhalb von Regionen sowie auch zwischen chinesischen Provinzen. (Auch Afrikas Wachstum hat sich seit der Jahrtausendwende spektakulär verbessert, doch sind die Unterschiede auf dem Kontinent noch größer als anderswo.) Doch hinsichtlich der wahrscheinlichen Stärke des durch die Globalisierung erleichterten Konvergenz-Prozesses, kommt es darauf an, zwischen Lateinamerika und Asien sowie auch innerhalb Asiens zu unterscheiden, um China nicht mit dem Rest des Kontinents in einen Topf zu werfen.
In Chinas Ökonomie wird der Konvergenzprozess höchstwahrscheinlich rasch weitergehen, obwohl die jährliche Wachstumsrate von neun auf sieben Prozent fallen könnte. Der Rest der asiatischen Schwellenländer wird ebenfalls von durchaus rascher Konvergenz geprägt sein, wenngleich das Tempo mit China nicht mithalten kann. Lateinamerika allerdings wird ohne größere Strukturreformen zur Verbesserung seiner Investitionen und der Qualität der Ausbildung hinsichtlich des Konvergenzprozesses langsamer voranschreiten.
Von diesem allgemeinen Trend wird es bestimmt Ausnahmen geben, doch es bestehen einige dauerhafte regionale Besonderheiten. Insgesamt lässt sich nach wie vor sehr viel durch die Grundlagen der Ökonomie erklären, in denen die Notwendigkeit des Sparens und Investierens als Voraussetzung für Wachstum immer betont wird. Lateinamerika und Asien operieren in der gleichen Weltwirtschaft mit Zugang zu ähnlichen Technologien und Märkten. Wenn Lateinamerika rund 20 Prozent seines Nationaleinkommens in nachhaltiger Weise investiert, während die Schwellenländer Asiens knapp 30 Prozent investieren - einschließlich Bildungsinvestitionen – wird der Konvergenzprozess in diesen asiatischen Schwellenländern viel schneller vonstatten gehen.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier
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