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Ärzte in Deutschland Kapern oder retten Investoren mit Praxis-Ketten das Gesundheitssystem?

Kritiker behaupten, Investorenpraxen stellten überhöhte Honorare. Stimmt das? 
Kritiker behaupten, Investorenpraxen stellten überhöhte Honorare. Stimmt das? 
© Albert Tercero
Große Investoren und Start-ups entdecken das deutsche Gesundheitssystem, kaufen sich in Praxen ein und wollen mit Hausarzt-Ketten die ambulante Versorgung retten. Klar, dass das Ärger gibt

Der erste Blick fällt in ein fast leeres Wartezimmer. Draußen ist November-Nieselwetter, der Krankenstand in Berlin hoch, doch gerade mal zwei Patienten schniefen hier im hellen Foyer der Hausarztpraxis – hinter ihnen ein Bildschirm mit QR-Code: Wer ihn scannt, bekommt Tipps zu Vitaminen. Am Empfangstresen blicken zwei Menschen mit Headsets auf Monitore, kein Telefongebimmel stört die Ruhe. Julian Kley und Vlad Lata, die beiden Gründer der Hausarztkette Avi Medical, warten in einem freien Behandlungszimmer. Einer der beiden Ärzte ist heute nicht da. Beide tragen T-Shirts mit dezent aufgedrucktem Firmenlogo. 

Länger rumsitzen soll hier kein Patient. „Zehn Minuten Wartezeit ist unser aktueller Schnitt“, sagt Vlad Lata, silberne Brille, Schnellsprecher. Und das sei noch zu lang, findet der 33-jährige IT-Entwickler. „Null Minuten“, damit wäre er zufrieden. Der gebürtige Rumäne zeigt auf den Monitor vor sich, ein Kontrollzentrum der Praxis am Spittelmarkt. In Echtzeit ist hier für alle Mitarbeiter zu sehen, welcher Patient gerade bei welchem Arzt ist, was für Behandlungen im großen und kleinen Labor laufen oder wer den Ultraschall belegt. Jeder Arzt und medizinische Fachangestellte hat hier eine „Kachel“, die ihm seine Aufgaben und Patienten zuweist. Ein Farbsystem sortiert nach rot: akut, gelb: chronisch, lila: Kontrolluntersuchung. Es gibt feste Zeiten für jeden Krankheitstyp: Erkältung zehn Minuten, Vorsorge 15 bis 30. Dauert ein Termin länger als vorgesehen, disponiert das Programm um, erzählt Lata begeistert. Das System verteile auch die Aufgaben zwischen Arzt und medizinischem Fachpersonal. Und natürlich buchen Patienten ihre Termine online.

Ärzte in Deutschland: Kapern oder retten Investoren mit Praxis-Ketten das Gesundheitssystem?

Für Lata ist diese Software der Anfang einer radikalen Veränderung im Gesundheitssystem: Heutige Arztpraxen können die Patienten von morgen nicht mehr vernünftig versorgen, ist der Gründer überzeugt. Datenanalysen und mehr Technik sind notwendig, damit Menschen gar nicht erst krank werden und Kranke besser behandelt werden können. Denn für Behandlung und Betreuung fehlen Ärzte und medizinisches Personal. Schon jetzt seien 4100 Hausarztpraxen im Land unbesetzt, rechnet die Robert Bosch Stiftung vor, bis 2035 dürften es 11.000 sein. Andere gehen von weit höheren Zahlen aus, da bis dahin 30.000 Hausärzte in Deutschland aufhören. 

Gesundheitsystem in Deutschland: teuer und Mittelmaß

Zugleich steigen die Kosten für Medikamente und Geräte. Die Menschen werden außerdem älter als früher und damit auch kränker. Diabetes, Demenz, Herzinsuffizienz, Krebs und Depression sind auf dem Vormarsch. Ein weltweites Problem, das Deutschland besonders hart trifft. „Unser Gesundheitssystem ist extrem ineffizient“, sagt Kley. Genauer gesagt: das drittteuerste in der Welt, aber nur Mittelmaß, was Lebenserwartung und Gesundheit angeht. 474 Mrd. Euro, fast 14 Prozent des BIP hat es 2021 verschlungen.

17 Praxen mit 46 Ärztinnen und Ärzten haben Kley und Lata seit 2020 eröffnet, in München, Hamburg, Berlin und Stuttgart. Bis Ende des Jahres wollen sie auf 25 Praxen in ganz Deutschland wachsen. Immer mit der Grundidee, „Ärzte durch Technik zu beflügeln, Patienten besser zu versorgen“, sagt Kley. Finanziert werden sie von Wagniskapitalgebern, die bisher mehr als 80 Mio. Euro in das Konzept gesteckt haben. Zu den Geldgebern zählt etwa der jüngste der Samwer-Brüder mit Picus Capital. Die Gründer und die Angestellten selbst halten mehr als ein Drittel der Anteile. 

Lauterbach: Gierige Investoren schaden Patienten

Es ist eine Neuerung, die das Land in zwei Lager teilt. Die Gegner warnen vor gierigen Investoren, die Profitinteressen über das Patientenwohl stellen. Ihr prominentester Sprecher ist ausgerechnet Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Der mahnte Weihnachten 2022 an, dass „unser Gesundheitssystem weniger Gier und mehr Menschlichkeit“ brauche, und drohte, dass „profitorientierte Ketten“ wahrscheinlich „ihr letztes Weihnachten feiern“. Die Befürworter aber sehen in den neuen Investoren eine Chance für das System, digitaler, effizienter und besser für Ärzte und Patienten zu werden. „Wir brauchen Kapital, egal woher, um die Gesundheitsfinanzierung zu verbessern“, sagt Frank-Ulrich Fricke, Gesundheitsökonom in Nürnberg. „Private Kapitalgeber, die in die Versorgung investieren, sind dringend notwendig.“

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