Es hat ja lange genug gedauert, bis wir uns alle darauf geeinigt haben, dass Deutschland künftig ein Einwanderungsland sein wird. Also dürfen jetzt auch alle ein bisschen feiern, wenn wir die neuen Zuwanderer aus dem südeuropäischen Euro-Krisengürtel mit so offenen Armen bei uns empfangen. Da kommen tolle junge Leute, qualifiziert und motiviert. Genau das Richtige für unseren zunehmend angespannten Arbeitsmarkt, unsere gelegentlich verspannte Kultur und unsere chronisch wackeligen Sozialsysteme. Womöglich ist die Rente so am Ende eben doch noch sicher.
Bei all der Freude übersehen wir allerdings ein gravierendes Problem: Es gibt einen Unterschied zwischen der traditionellen Armutsflucht und der heutigen Euro-Migration. Und zwar aus Sicht der Heimatländer. Was sich derzeit abspielt, das hat nichts mehr damit zu tun, dass gleichsam ein demographischer Druckausgleich stattfindet. Dass arme Regionen, die ihre wachsende Bevölkerung einfach nicht schnell genug mit Jobs versorgen können, einen Teil der Jugend auf internationale Wanderschaft schicken.
Es passiert das genaue Gegenteil: Die qualifizierten Zuwanderer, die wir bei uns gerade so erfreut begrüßen, werden in ihren Heimatländern eigentlich dringend gebraucht. Wenn die Wirtschaft in Spanien und Italien, Portugal oder Griechenland irgendwann aus der tiefen Rezession auftauchen und zu normalem Wachstum zurückkehren soll, dann werden dort auch diese Arbeitskräfte dringend benötigt.
Demographisch stehen die südeuropäischen Länder kaum besser da als Deutschland: Ihre Geburtenraten sind ähnlich niedrig, die Alterung schreitet voran. Deutschland profitiert nun zu Vorzugskonditionen von ihrem knappen Humankapital: Zu uns kommen Ärzte, Ingenieure oder Facharbeiter, deren Ausbildung andere bezahlt haben. Gracias, obrigado, efcharisto. Thank you very much!
Natürlich entlastet diese Migration kurzfristig auch die Krisenländer. In Portugal hat vergangenen Sommer sogar der Premierminister seinen Landsleuten geraten, sie sollten ihr Glück doch im Ausland versuchen. Die Jugendarbeitslosigkeit ist seither noch weiter gestiegen und beträgt jetzt fast 43 Prozent. Die Auswanderungsbewegung aus Portugal, die nach dem Euro-Beitritt fast vollständig zum Erliegen gekommen war, erreicht heute wieder die Spitzenwerte der 60er und 70er Jahre. Junge Portugiesen zieht es nicht nur nach Deutschland, sondern auch nach Brasilien oder Angola, die boomende Ex-Kolonie in Afrika.
Ökonomen bezeichnen so etwas als eine „passive Sanierung“. Manche Teile der neuen Bundesländer haben nach der Wiedervereinigung Ähnliches erlebt: Auf den wirtschaftlichen Niedergang folgt eine Entvölkerung; erst fehlt die Jugend – und ein paar Jahre später fehlen damit auch die jungen Eltern. Die Abwärtsspirale dreht sich weiter und es wird immer schwieriger für die Region, sich finanziell auf eigenen Beinen zu halten. In einer Wüste ist dann zwar keiner mehr arbeitslos – aber es gibt eben auch keine nennenswerten Wirtschaftsaktivitäten mehr.
Innerhalb Deutschlands gibt es für solche Fälle die vielen Hilfspumpen des Finanzausgleichs. In Europa ist unklar, ob solch ein Ausgleich überhaupt finanzierbar und für alle akzeptabel ist.
Für die Eurokrisenländer geht es hier letztlich auch um ihr Selbstverständnis und ihre Zukunftsfähigkeit als politische Einheit. Im kleinen Portugal, dessen Wirtschaft seit drei Jahren im ungebremsten Fall ist und dessen Staatsschulden explodieren, steht inzwischen ein Buch auf der Bestsellerliste, das den Euro-Austritt fordert. Der Autor, João Ferreira do Amaral, ist ein angesehener Ökonom (und langjähriger Euro-Kritiker). Er beklagt nicht nur die Perspektivlosigkeit der aktuellen Wirtschaftspolitik, sondern auch die Fremdbestimmung seines Landes durch Brüssel und Berlin. Das Argument, dass der Euro von besonderem Vorteil für Deutschland sei, wird bei Kritikern wie diesem kaum verfangen.
PS: Diese Woche bekommt Lettland in Brüssel das Okay für den Beitritt zum Euro. Das Land hat sich zuletzt einigermaßen erfolgreich durch eine tiefe Wirtschaftskrise gekämpft und gilt daher als Musterbeispiel für gelungene Anpassungspolitik. Seine Bevölkerung ist allerdings seit dem Jahr 2000 um fast ein Siebtel geschrumpft – in Deutschland entspräche das einem Rückgang um über zehn Millionen Einwohner. 80 Prozent der lettischen Auswanderer sind unter 35 Jahre.
Christian Schütte schreibt an dieser Stelle jeweils am Dienstag über Ökonomie und Politik.
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