Irgendwann gelangten fast alle deutschen Bundeskanzler an diesen einen Punkt: den Moment, in dem sie höchst unbequeme Entscheidungen treffen mussten, in dem Haltung gefragt war. Entscheidungen, bei denen sie für einen Moment ihre Überzeugung über kurzfristige machtpolitische Erwägungen stellten. Momente, in denen sie das Risiko eingingen, zu stürzen. Man könnte vom „Kanzlermoment“ sprechen.
Das galt in besonderem Maße für Helmut Schmidt. Sein Kanzlermoment kam 1982. Schmidt kämpfte für den Nato-Doppelbeschluss – die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa. Ein höchst umstrittenes Projekt, nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der eigenen Partei. Tausende Menschen gingen auf die Straße. Schmidt hielt daran fest. Er handelte aus tiefer Überzeugung, aus Verantwortungsgefühl – und nahm seinen Sturz in Kauf. Der „Kanzlermoment“ kostete ihn das Amt, sorgte auf Jahre für die Abstinenz der Sozialdemokraten in der Regierung und war mitverantwortlich für die Entstehung der Grünen als Kraft außerhalb der SPD.
Schmidt steht mit einer solchen Prinzipien-Entscheidung in der Reihe der deutschen Bundeskanzler nicht allein. Als Konrad Adenauer 1957 die Römischen Verträge unterzeichnete, war das Kriegsende gerade zwölf Jahre her. Für diesen Schritt, der den Grundstein für die heutige Europäische Union legte, waren viele Deutsche wenige Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft eigentlich noch gar nicht reif. Doch Adenauer hatte eine mutige Vision. Er selbst sprach vom „vielleicht wichtigsten Ereignis der Nachkriegszeit“. Und setzte das Projekt gegen alle Widerstände durch.
Trippelschritte statt Kanzlermoment
Helmut Kohls Kanzlermoment nahte mit dem Mauerfall. Er sah das historische Fenster für sein Herzensprojekt Wiedervereinigung. Heute vergisst man leicht: Das war zu dem damaligen Zeitpunkt keineswegs ein unumstrittenes Projekt. Es gab durchaus warnende Stimmen vor einer überhasteten Einheit aus ökonomischen wie politischen Gründen. Kohl traf die riskante Entscheidung dennoch.
Auch der Pragmatiker Gerhard Schröder bekam seinen „Kanzlermoment“. Die Agenda 2010 stieß auf massive Proteste in der Bevölkerung und in der eigenen Partei. Doch Schröder nahm die Spaltung der SPD in Kauf, machte sich damit zum Märtyrer. Er wurde abgewählt, die SPD verbuchte Massenaustritte, die Linke erstarkte. Doch viele feiern ihn heute für seine damals unbequemen Reformen.
Und Frau Merkel? Womit wird sie einmal in die Geschichtsbücher eingehen?
Lange schien es, als würde sie aus der Tradition der Kanzlermomente herausfallen. Ihr Stil steht nicht für den mutigen großen Wurf. Sondern für eine risikoscheue Taktik der Trippelschritte. So tastete sie sich durch die Eurokrise. Große nationale Reformprojekte: Bisher weitgehend Fehlanzeige. Bestenfalls kann sie die Energiewende für sich verbuchen. Doch das war kaum eine Überzeugungstat der einstigen Atomkraftbefürworterin, sondern ein kalkulierter Schritt zur Mehrheitssicherung, als die Stimmung in der Bevölkerung drehte. Bislang galt also: Mit Merkels Taktik schafft man es immer wieder ins Kanzleramt. Aber nicht mit politischem Vermächtnis ins Geschichtsbuch.
Haltung ist gefragt
Das könnte sich ändern. Nun könnte auch Frau Merkels „Kanzlermoment“ gekommen sein. In der Flüchtlingskrise zeigte sie sich plötzlich von einer neuen Seite an dem Wochenende, als sie Deutschland zu einer Willkommens-Nation machte. Ein Déjà-vu. Wieder droht eine Kanzlerin mit ihrer Linie aus innerer Überzeugung die eigene Partei zu spalten, gegen Widerstände in der Bevölkerung. Ihre derzeitigen Entscheidungen haben das Potenzial das Land historisch zu verändern. Ganz so wie in früheren Kanzlermomenten.
Noch ist offen, wie es bei Merkel ausgeht. Fest steht: Es sind wieder stürmische Zeiten, die Haltung erfordern. So wundert es nicht, dass die Deutschen in den vergangenen Jahren mit fragendem Blick zu einem Mann wie Helmut Schmidt aufschauten. Mit ihm geht ein Vertreter einer Generation, die einen sicheren Kompass im Herzen trug – vielleicht als Ergebnis früherer stürmischer Zeiten. Das machte Schmidt in den letzten Jahren zur Projektionsfläche. Eine Überhöhung die letztlich eine Sehnsucht reflektiert, nach Orientierung, nach mutigen Entscheidungen, nach Überzeugungstätern - und den Mangel an Haltung in der heutigen Ära des Pragmatismus offenlegt.