Capital: Herr Müller, Penny macht mit seiner Aufregerkampagne der „wahren Preise“ von billigen Lebensmitteln Schlagzeilen – und verteuert Produkte im Sinne der Nachhaltigkeit. Welche „verborgene“ Kosten fallen in der Herstellung überhaupt an?
ALEXANDER MÜLLER: Im Augenblick wird bei der Produktion von Lebensmitteln der Naturverbrauch als kostenlos angesehen: klimaschädliche Emissionen, Degradierung von Land, Verbrauch von Biodiversität, um einige Beispiele zu nennen. Würde man diese Folgen bepreisen, hätte man zusätzliche Kosten. Sie fallen nicht nur in der Lebensmittelproduktion an, werden in der Art und Weise, wie wir Rechnungen stellen in unserem ökonomischen System aber nicht erfasst. So ist die Landwirtschaft verantwortlich für 60 Prozent des Biodiversitätsverlusts weltweit, sie ist durch Stickstoff ein großer Verschmutzer von Wasser und auch – klimaschädlich – von Luft. Diese Kosten werden vernachlässigt.
Und den Preis des ökologischen Fußabdrucks gibt der Discounter Penny jetzt eine Woche lang weiter
Das Projekt versucht jetzt, einige dieser Kosten abzubilden und darzustellen. Da wird nichts erfunden, sondern es werden tatsächlich entstehende Kosten in Preisen abgebildet, für die bisher keiner im Laden bezahlt.
Halten Sie das als Kampagne für zielführend?
Ja, denn damit wird deutlich, dass unsere billigen Lebensmittel im Supermarkt in Wirklichkeit sehr teuer sind, wenn man alle Kosten einrechnen würde. Letzten Endes bezahlen wir doch viermal für Lebensmittel: Einmal im Supermarkt, dann den Preis der Umweltschäden, den Preis der Veränderungen im ländlichen Raum hauptsächlich in Entwicklungsländern, weil dort Sozialstrukturen zerstört werden. Und am Ende, wenn wir uns falsch ernähren, bezahlen wir nochmal unsere Gesundheitskosten. Also insgesamt ist festzuhalten: Billige Lebensmittel kosten im Laden nur einen Bruchteil. Die Aktion zeigt, wie teuer Lebensmittel tatsächlich sind.
Warum ist es wichtig, auf die Folgekosten aufmerksam zu machen?
Die Kosten fallen durch unseren Konsum heute schon an, im Augenblick bezahlt aber keiner dafür. Das werden zukünftige Generationen sein oder andere Länder. Man kann Natur und Biodiversität, gesunden Boden als Kapital betrachten, Naturkapital ist eine Bank. Und von dieser heben wir laufend Geld und Werte ab, ohne darauf einzuzahlen. Wir verbrauchen Biodiversität, wir verbrauchen Wasser, wir haben Emissionen, die den Klimawandel anheizen, und dadurch wird das Naturkapital, die Bank Natur, immer weniger wert. Keiner zahlt ein. Wir müssen aber verhindern, immer mehr Schulden bei der Natur aufzubauen, die später mit Unkosten zurückgezahlt gezahlt werden müssen. Das ist auch eine Frage der Generationengerechtigkeit und der Gerechtigkeit zwischen unterschiedlichen Entwicklungsstufen in den Gesellschaften.
Und wenn nun der Verbraucher zur Kasse gebeten wird, müssen wir dann nicht die Mehreinnahmen auf die Bank Natur wieder einzahlen? Also zum Beispiel auf unsere Gemeingüter?
Es klingt vielleicht spitzfindig, aber zwischen Kosten und Preisen klafft eben ein riesengroßer Unterschied. Die Kosten sind heute schon da. Es geht in einem Riesenausmaß fruchtbarer Boden verloren, wir wollen aber eine Welt von zukünftig zehn Milliarden Einwohner:innen ernähren. Um Verluste einzudämmen, wären erhöhte Lebensmittelpreise zwar vielleicht der leichteste Weg. Aber es muss dann auch eine soziale Komponente geben, einen sozialen Ausgleich – das ist ganz wichtig. Sonst würden die Menschen aufbegehren. Wir reden also nicht darüber, die Kosten später eins zu eins auf die Preise umzulegen. Darum geht es nicht.
Um was geht es dann?
Um die Vermeidung von Kosten. Man kann zum Beispiel über Gesetze Produktionsbedingungen verändern oder Subventionen oder Praktiken der Bauern – so dass die ökologischen, sozialen und gesundheitlichen Kosten gar nicht erst anfallen. Zuerst muss der Preis deutlich werden: Das Produkt wird für 1,99 Euro verkauft, aber die wahren Kosten sind 3,99. Danach stellt sich die eigentliche Frage, wie bepreist man das Ganze? Das ist ähnlich wie beim CO2-Preis, den wir jetzt bezahlen, weil die Verschmutzung der Atmosphäre über Kohlendioxid jahrzehntelang kostenlos war. Was aus dem Auspuff kam, aus dem Kamin, aus den Fabriken und Schornsteinen hat nichts gekostet. Jetzt wird bepreist, um Emissionen zu vermeiden.
Und so wird man das bei Lebensmitteln auch machen?
Ja. Aber ich finde es schwierig zu sagen, die Kosten so auf die künftigen Preise umzulegen, dass nur noch Gutverdiener und reiche Leute sich Lebensmittel leisten können. Das wollen wir nicht. Deshalb brauchen wir parallel eine aktuelle Debatte über den sozialen Ausgleich, um diejenigen zu schützen, die die Extrakosten nicht tragen können, gleichzeitig aber Anreize zu schaffen. Die Preissignale, die in dieser Aktion gesetzt werden, sind also nicht die Preise, die man später dafür verlangen kann. Da muss man wirklich aufpassen. Kein Zufall ist es aber, dass Bioprodukte mit weniger Kosten für die Natur nicht so drastisch teurer sind wie etwa herkömmliche Fleischprodukte mit den höchsten Aufschlägen.
In den Supermärkten wird also nicht bald alles noch teurer, weil die „wahren Kosten“ weitergegeben werden – sondern man muss international ein System der Bepreisung entwickeln?
Vor allem die Art und Weise, wie wir Lebensmittel produzieren, muss sich verändern. Wir leben auf einer Erde mit endlichen Ressourcen und tun so, als ob der Bodenverbrauch und seine Degradierung kein Kostenfaktor sind. Den Verlust der Biodiversität preislich mit null anzusetzen, kann nicht gut gehen. Deswegen muss die Politik die notwendigen Veränderungen in der Produktion und bei Subventionen auch in internationalen Vereinbarungen berücksichtigen. Das ist kein Programm, um morgen die Lebensmittelpreise zu verdoppeln und zu verdreifachen. Das ist politisch gar nicht machbar. Wir brauchen eine grundlegende gesellschaftliche Reform.
Wie kann so eine Bepreisung entwickelt werden?
Man muss aufpassen, dass man die Analyse nicht teurer macht als das, was am Ende rauskommt. Deswegen braucht man Durchschnittswerte, um unterschiedliche Praktiken in der Produktion zu bepreisen. Der Thinktank TMG hat ein Handbuch über „True Cost Accounting“ veröffentlicht, das zeigt, wie wir den Naturverbrauch von zwei Firmen monetarisieren. Die Berechnungen sind noch Forschungsarbeit. Aber Preissignale wie bei Penny sind auch deswegen wichtig, weil wir ein Drittel aller Lebensmittel wegwerfen. Bei der Welternährungsorganisation FAO habe ich 2008 die erste Studie dazu in Auftrag gegeben, die zeigte, dass wir 1,3 Milliarden Tonnen weltweit jährlich wegschmeißen. Wenn Lebensmittelabfälle ein Land wären, wären deren klimaschädliche Gase der drittgrößte Emittent nach den USA und China. Aber unser Lebensmittelsystem gibt den Eindruck, dass alles billig sein darf.
Welche Rolle spielen die internationalen Lieferketten von Lebensmitteln?
Man muss an die Lieferketten in ihrer ganzen Komplexität ran. Unsere Berechnungen über Ansätze für Bodenverbrauch und Degradierung haben wir mit einigen Bioproduzenten begonnen, weil die zertifiziert sind und einen besseren Überblick über ihre Lieferketten haben als andere. Im November wird es eine Studie der FAO geben, in der versucht wird, die Werte, die im globalen Lebensmittelsystem produziert werden, abzubilden. Die Schätzungen belaufen sich auf rund 10 Billionen Dollar, und die Schäden, die an Naturkapital, Sozialkapital und Humankapital verursacht werden, erreichen 12 Billionen Dollar. Das heißt, das globale Ernährungssystem hat eigentlich einen negativen Wert. Auch darauf weist Pennys Kampagne hin, ohne dass man gleich sagt: Das sind jetzt die Preise.
Aber welche Konsequenzen müsste Penny selbst daraus ziehen?
Erst einmal finde ich es hervorragend und mutig von Penny, aufzuzeigen, welche Kosten eigentlich in den Lebensmitteln drin sind – und dass die Verbraucher je nach Lebensmittel nur 30, 50 oder 80 Prozent davon bezahlen. Die restlichen Kosten wird irgendjemand tragen, andere Generationen, oder es wird Knappheiten geben. Das ist der Sinn dahinter. Die Mehreinnahmen für eine sinnvolle Maßnahme zu spenden, ist dabei eher Symbolik. Die Diskussion an sich ist viel mehr wert. Doch Penny selbst könnte zum Beispiel sagen: Wir wissen um Produkte mit ganz hohen negativen Externalitäten, also Folgekosten, und suchen mit den Produzenten Wege, diese zu verringern. Aus Projekten weiß man zum Beispiel, dass man über 10 Euro-Cent Produktverteuerung durch die Veränderung der Produktionsbedingungen 1 Euro Nebenkosten vermeiden kann.
Wir müssen also anders rechnen?
Dass wir die Rechnungslegung, die den Wert der Natur vernachlässigt, verändern müssen, ist ein großer Schritt. Die CO2-Bepreisung ist nach Jahrzehnten Nulltarif nun ein Schritt in diese Richtung. Gerade haben wir die Themen Waldbrände, starke Klimakrise, massive Investitionen im Gesundheitsbereich, um mit der Hitze umzugehen. All das kostet Geld. Aber unsere gesamte Rechnungslegung – die Art und Weise, wie wir Werte schöpfen – ist vollkommen falsch: Wenn jemand einen Apfelbaum pflanzt, ist es kein Wert. Wenn aber ein Auto gegen einen Baum fährt, und das Auto muss repariert werden, dann geht das als Wertschöpfung in das Bruttosozialprodukt ein.
Wer muss die Bepreisung im Nahrungsmittelsektor in die Hand nehmen? Der Landwirtschaftsminister? Die Vereinten Nationen?
Es gibt keinen einzigen Player, der das alleine machen kann. Im November wird der große FAO-Bericht zu den wahren Kosten der Lebensmittelsysteme erscheinen. Es gibt Gespräche mit den Mitgliedern der Standardsetzungsvereinigung, die müssen mitmachen. Firmen wie Nestlé müssten in der Bilanzierung ihrer jährlichen Wertschöpfung eigentlich künftig die Kosten aus Naturzerstörungen ausweisen. Das Landwirtschaftsministerium ist ebenso gefragt, wie die Zivilgesellschaft und Medien, die öffentliche Aufmerksamkeit schaffen. Wir haben da ein Problem, das wir lösen müssen.