Wer mich ein wenig kennt, der weiß: Sobald ich auf einer einzigen Speisekarte sowohl Pizza als auch Thai-Curry, Sushi, Pasta und sogar Schnitzel erblicke, werde ich skeptisch. Höflich ausgedrückt. Was daran liegt, dass nach meiner Erfahrung die Qualität der servierten Speisen in einem Restaurant meist proportional zur Vielfalt der abgedeckten Länderküchen abnimmt. Ähnlich verhält es sich mit Hotels, die behaupten, gleichzeitig bei Design, Wellness, Sportangebot und Gastronomie absolute Spitze zu sein. Ja, das gibt es durchaus, wie regelmäßige Leser meiner Capital-Kolumnen wissen. Die Regel ist es jedoch keineswegs. Und kein Haus muss auf jedem Terrain grandios sein. Lieber sind mir ein oder zwei leidenschaftlich und dauerhaft verfolgte Konzepte.
Beim Stanglwirt in Going am Wilden Kaiser ist das erstaunlicherweise komplett anders. Hier gibt es wirklich fast alles, und das jeweils auf allerhöchstem Niveau. Wie den Machern dieser Kraftakt gelingt? Ich habe keinen Schimmer, und deshalb freue ich mich umso mehr auf meinen Test-Aufenthalt in Tirol.
Das Motto im Stanglwirt: Go big or go home
Noch vor dem Check-in fällt mir bereits das enorme Spektrum des Angebotes auf, in Form von Pferden, die auf den Koppeln des Luxushotels grasen. Nicht irgendwelche, sondern die berühmten Lipizaner, quasi königliche Tiere. Am nächsten Tag ist mir nach einer Partie Tennis, für die ich mich zwischen acht Außen- und sechs Hallenplätzen entscheiden kann. Professionelle Trainer stehen natürlich auch zur Verfügung. Auch für die jüngeren Gäste ist mit einem Kinderdorf bestens gesorgt. Wobei es die Beschreibung „gigantischer, bunter Event-Space“ besser trifft.
Beim Stanglwirt ist die Standardgröße eben XXL, das Angebot so vielfältig wie luxuriös – und dennoch sehr persönlich. Was ich auch buche und probiere – die Qualität ist fantastisch. Gleiches gilt für die Marken, die dem Gast begegnen: von der Seife auf den 170 Zimmern und Suiten, die eigens entwickelt wurde, über die nachhaltig hergestellte Anti-Aging-Creme im Spa von The Good Conscious bis zu Sonnenbrillen im Shop, die der österreichische Bundestrainer Ralf Rangnick mit der Marke Gloryfy lanciert hat. Sicher, manches dieser Features findet sich auch in anderen Hotels, diese Fülle aber ist äußerst selten.
Erst Weinschenke, heute Luxusresort
Gar nicht leicht, zu beschreiben, was der Stanglwirt nun eigentlich ist: ein Wellnesshotel, ein kulinarischer Hotspot, ein Sportresort oder ein alpiner Bio-Bauernhof? Sie ahnen die Antwort, sie lautet: sowohl als auch. Hier wird ausgelassen und meist mit Prominenz gefeiert, wie bei der legendären Weißwurstparty – und anschließend dominieren wieder Stille und Achtsamkeit.
Während viele Hotels in den Alpen aus Bauernhöfen entstanden, sich jedoch der Landwirtschaft nach und nach entledigten, steht im Stanglwirt der Misthaufen seit über 400 Jahren an derselben Stelle. Das Resort wurde quasi drumherum gebaut und ist über die lange Zeit zu einer Art Dorf im Dorf gewachsen. Purer Luxus trifft bäuerliche Bescheidenheit, dieser komplexe Charakter macht das Haus für mich ungemein authentisch, menschlich und rundum liebenswert.
Besonders gut gefällt mir die Selbstverständlichkeit. Natürlich gibt es hier Pferde, wie zu Beginn der Geschichte des Stanglwirts im 16. Jahrhundert. Damals war das heutige Luxushotel eine Weinschenke für die Knappen, die in den Kupfer- und Silberminen der Region schufteten. Mit dem Ausbau des Handels ratterten immer mehr Post- und Frachtkutschen durch den Ort Going. Die geschäftstüchtigen Betreiber der Schenke legten sich ein paar kräftige Pferde zu, die sie als Vorspannpferde vermieten konnten. Für die steilen Bergpässe dieser Gegend sollten es nämlich besser ein paar PS mehr sein.
Diese Tradition wollte Balthasar Hauser, Seniorchef des Stanglwirts, in den 1980er-Jahren wiederaufleben lassen und schaffte ebenfalls Pferde an. Nicht irgendwelche, sondern Lipizaner, die Pferde der legendären Wiener Hofreitschule. Mittlerweile züchtet man die edlen Tiere auch hier, in Zusammenarbeit mit dem Bundesgestüt Piber in der Steiermark. Dass Hauser sich für Lipizaner entschied, hatte zwei Gründe. Zum einen passten die „Kaiserpferde“ perfekt zur Lage des Hotels am Gebirgszug Wilder Kaiser, und zum anderen gelten die Tiere als äußerst musikalisch.
Wer hier eincheckt, gehört quasi zur Familie
Und das gilt unbedingt auch für die Besitzerfamilie Hauser. Der Seniorchef Balthasar, seine Frau Magdalena, die erwachsenen und im Betrieb tätigen Kinder Maria, Elisabeth und Johannes sowie deren Kinder treten regelmäßig mit Volksmusik vor den Gästen auf. „Beim Stanglwirt“, so brachte es Balthasar Hauser einmal auf den Punkt, „wird viel musiziert, viel philosophiert und wenig politisiert“. Es ist wohl dieses Familiäre, das die Stimmung im Stanglwirt so persönlich macht. Und das bäuerlich Bodenständige.
Diese familiäre Atmosphäre soll nun das kulinarische Angebot wieder stärker prägen. Derzeit setzt Johannes Hauser, der für die Land- und Forstwirtschaft und die Gastronomie zuständig ist, dafür im Hotelrestaurant auf ein neues Konzept. Denn: Das bisherige Fine-Dining-Menü mit acht Gängen ist weniger beliebt als die traditionsreiche Gaststube, wo die Gäste bei leichter Küche à la carte durch die Fenster direkt in den Kuhstall blicken können. Dieser Erkenntnis folgend lässt Johannes Hauser die Kaminstube zum Family-Style-Restaurant umbauen, wo alles in großen Schüsseln und Platten serviert wird – zum Teilen. Wie früher auf dem Bauernhof, als gemeinsam gegessen, geredet und gelacht wurde. Eine tolle Idee, die wunderbar zum Stanglwirt passt, wo man seit jeher mit den unterschiedlichsten Menschen an großen Tischen zusammen saß und aß.
Schon früh reisten bekannte und meist vermögende Persönlichkeiten, Adlige und Politiker aus Großstädten wie Wien, Salzburg, Zürich oder München nach Tirol, um beim Stanglwirt einzukehren. Darunter beispielsweise Soraya, die zweite Frau des letzten Schahs von Persien. Wirtin Lena Hauser ahnte nicht, wer damals um die Mittagszeit vor ihr stand, und vermutlich wäre es ihr egal gewesen. Jeder Gast ist wichtig. Die Gaststube war voll und so setzte Lena Hauser die (Exil-)Kaiserin kurzerhand zu drei Arbeitern aus der Umgebung, die sich gerade in ihrer Pause stärkten. Und siehe da, das ungleiche Quartett verstand sich prächtig.
Es scheint wirklich der genius loci zu sein, der besondere Geist dieses Ortes, der den Stanglwirt einzigartig macht. Wer hier durch die Tür spaziert, legt mit dem Mantel auch die Welt draußen ab, ihre Sorgen und Nöte. Für eine Zeit. Einfach mal bloß Mensch sein.