Was bringt die neue Saison im Frühjahr und Sommer 2022 für die Männermode? Wird es eher gedeckt oder ausgelassen farbenfroh – und gibt es überhaupt noch dominierende Trends? Fragen, die wir Chris Kyvetos, einem ausgewiesenen Stil-Experten gestellt haben. Er ist der Chefeinkäufer für Menswear bei Mytheresa.com, einer global agierenden E-Commerce-Plattform für Luxusgarderobe und Accessoires.
Capital: Chris Kyvetos, ich dachte, dass Trends der Vergangenheit angehören und stattdessen hemmungsloser Individualismus den Ton angibt. Liege ich da falsch?
CHRIS KYVETOS: Ich denke, es ist gar nicht so leicht, in Zeiten von sozialen Medien und Influencern, wo ständig neue Trends beschworen werden, seinem eigenen Stil treu zu bleiben. Für mich persönlich gab es schon immer ein Dauer-Thema, und das war und ist Sportswear. Dieses Faible hat mich auch in den späten 90er Jahren an dem legendären japanischen Designer Yohji Yamamoto fasziniert, der damals mit der Idee einer Kollektion mit Adidas zu spielen begann. Später wurde daraus die Linie Y-3. Diese spannende Verbindung aus Sportbekleidung und hochwertiger Mode ist heute mehr denn je präsent und relevant – vom Laufsteg bis auf die Kleiderstange.
Wenn Sie Frühjahr und Sommer modisch zusammenfassen müssten, wie sähe Ihr Stil-Briefing aus?
In dieser Saison haben wir gesehen, dass die Designer von Herrenmode ganz stark auf Accessoires und komplett durchdeklinierte Outfits achten. Ich finde, Männer sollten sich daher mehr Mühe geben, ihre Garderobe mit schmückenden Extras auszustatten, statt nur das eine oder andere Trendteil zu tragen. Man muss es übrigens gar nicht übertreiben: Es reicht vollkommen, den richtigen Gürtel zu tragen, etwas Schmuck und die perfekte Tasche.
Woher nehmen Sie die Inspiration für Ihre eigene Arbeit?
In der Mode gibt es nichts Neues. Also stöbere ich leidenschaftlich gern in Archiven, wo ich mich oft in einer Schatzsuche verliere und die Geschichte eines Produktes oder Looks bis an die Grenzen der Zeit zurückverfolge. Besonders inspirierende Referenzen versuche ich dann mit unseren Partnern für den heutigen Kunden neu zu interpretieren.
Nennen Sie drei Marken, die jeder Mann im Schrank haben sollte.
Prada, Moncler und New Balance.
Welche Newcomer sind es wert, entdeckt zu werden?
Ich interessiere mich sehr für die Arbeit von Arnar Mar Jonsson, ein Herrenmode-Label, das sich auf Oberbekleidung für den Saisonübergang spezialisiert hat und Funktion und Stil auf raffinierte Weise miteinander verbindet. Außerdem empfehle ich einen Blick auf die Label And Wander aus Japan und die Männerkollektion von The Row zu werfen, wenn es um eher formelle und zeitlose Styles geht.
Haben Sie seit der Pandemie ein verändertes Kaufverhalten bemerkt?
Eigentlich haben wir unsere Einkaufsstrategie durch Covid-19 kaum verändern müssen, denn auch vorher war das Interesse an hochwertiger Sportswear und zeitlosen Luxusprodukten groß. Etwas abgeflaut ist sicherlich die Nachfrage bei Businessschuhen, doch das konnte man auch schon vor der Coronazeit beobachten.
Welche Bestseller haben Sie kürzlich überrascht?
Ich hatte nicht erwartet, wie schnell die Kollaboration von Jil Sander und Birkenstock ausverkauft sein würde. Da haben unsere Kunden wirklich pfeilschnell reagiert und geordert!
Wird es eine Rückkehr von Anzug und Krawatte geben oder haben wir uns an die Homeoffice-Lässigkeit so sehr gewöhnt, dass wir ihr treu bleiben werden?
Meine Empfehlung wäre: Probieren Sie aus, ob Sie in denselben Klamotten in die Stadt gehen wollen, die Sie daheim vor der Webcam getragen haben – oder ob Sie einen Anzug bzw. Sakko und Hemd nicht doch vorziehen. Ich persönlich trage meine Loungewear ungern außerhalb meiner eigenen vier Wände. Und hat nicht US-Designer Tom Ford einmal gesagt, dass er es nicht mag, wenn Männer fern von Strand oder Pool Flip-Flops tragen? Da stimme ich ihm entschieden zu.
Welcher Nischentrend könnte den Sprung in den Mode-Mainstream schaffen?
Ich glaube, wir werden immer mehr Männer sehen, die Handtaschen tragen. Damit meine ich nicht die klassische Umhängetasche aus den Damenkollektionen, sondern speziell für Herren designte Modelle. Wir tragen schließlich mehr und mehr Dinge mit uns herum, und die Modemarken bieten nun viele klug durchdachte und attraktive Lösungen an.
Gab es in den letzten zwei Jahren Video-Meetings, bei denen Sie schreien wollten, weil jemand den Casual-Trend vor der Kamera ein wenig übertrieben hat?
Ich habe mich in den letzten zwei Jahren ehrlich gesagt von keinem Zoom-Outfit negativ beeinflussen lassen. Meine Priorität war es, dafür zu sorgen, dass es unseren Kollegen so gut wie möglich geht, und dass sie alle Werkzeuge zur Hand haben, die sie brauchen, um die Situation zu meistern. Gleichwohl hat es mich gefreut, wenn sich jemand für eine Call etwas besonderes angezogen hat.
Was war bisher Ihre schlimmste „Modesünde“?
Ich habe vielleicht ein- oder zweimal während einer Modenschau diskret parallel ein Fußballspiel verfolgt ...