Burkhard Schwenker war viele Jahre Chef von Roland Berger. Derzeit ist er Chairman of the Advisory Board der Unternehmensberatung, Dozent und hat mehrere Aufsichtsratsmandate. 2017 veröffentlichte er das Buch „Gute Strategie: Der Ungewissheit offensiv begegnen“.
Capital: Herr Schwenker, derzeit spüren alle eine große Unsicherheit, auch viele Unternehmen. Sie haben seit Jahrzehnten Manager durch zahlreiche Krisen begleitet und beraten. Ist das Coronavirus etwas Neues, das Unternehmen ganz anders herausfordert?
BURKHARD SCHWENKER: Ja und nein. Das Virus ist neu – aber Unternehmen sind schon seit geraumer Zeit mit einer neuen Lage konfrontiert, nämlich Ungewissheit. In der Entscheidungstheorie unterscheiden wir zwischen Risiko, Unsicherheit und Ungewissheit. Risiko heißt: Es gibt mehrere Optionen, wir müssen uns entscheiden, aber da wir die Wahrscheinlichkeiten kennen, können wir berechnen, welche Option die bessere sein wird.
Dafür haben wir Mathematiker und Risikomanager …
Genau, damit können wir umgehen. Die zweite Stufe ist Unsicherheit. Schon schwieriger, denn hier wissen wir nur noch um die Optionen oder Ereignisse, aber nicht mehr um ihre Wahrscheinlichkeiten. Aber immerhin, wir können uns noch ein Bild davon machen, wie die Welt aussehen kann. Ungewissheit heißt nun: Wir können weder sicher sein, dass wir die möglichen Ereignisse kennen, noch können wir sicher sein, dass wir ihre Wahrscheinlichkeiten richtig einschätzen. Corona ist nur ein neues Beispiel, aber Donald Trump, der Brexit, die Frage nach neuen Antriebstechnologien sind andere.
Wobei: Donald Trump ist zwar unberechenbar, aber wir können ausrechnen, was neue Zölle in Höhe von 20 Prozent für die deutschen Autobauer bedeuten …
Stimmt, das illustriert eher Unsicherheit: Wir wissen, dass Zölle drohen können, aber wir wissen nicht um die Wahrscheinlichkeit. Schwierig genug! Seine mögliche Wiederwahl oder auch eine Entscheidung für Bernie Sanders bedeuten allerdings auch Ungewissheit. Denn was hieße ein „neuer Kapitalismus“ für uns in Europa? Ich bleibe dabei: Ungewissheit ist heute strukturell da! Trends sind nicht mehr verlässlich, ökonomische oder politische Entwicklungen sind vielschichtig, nicht mehr leicht zu durchschauen, Freund und Feind nicht mehr so einfach auseinanderzuhalten. Ein Treiber dafür ist auch die Digitalisierung, die Branchengrenzen verschwimmen lässt. Wer weiß denn heute noch genau, wer morgen der Wettbewerber sein wird? Ganz nach dem schönen Zitat von Joachim Ringelnatz: „Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht.“
Das bedeutet, zu der strukturellen Ungewissheit kommt eine akute durch Corona hinzu. Was hören Sie denn von Unternehmern?
Corona ist natürlich neu. Ansonsten höre ich oft den Satz: Ungewissheit gab es früher doch auch, die industrielle Revolution, die Weimarer Republik, die Spanische Grippe. Allein, das Wissen, dass es solche Krisen oder Pandemien früher gab, hilft mir in der konkreten Situation nicht wirklich.
Wenn Vergleiche wenig helfen, wie gehe ich in einer Krise damit um? Soll ich an meiner Strategie festhalten, sie ändern oder einfach mein Pulver trocken halten?
Es ist zu früh, seine Strategie über den Haufen werfen. Wichtig sind nun zwei Dinge: Wir müssen direkt führen, qua Persönlichkeit, um Orientierung und Sicherheit zu geben. Führen über Zahlen oder Pläne bringt uns nicht weiter, denn die können ja morgen obsolet sein. Und das Zweite: Da wir nicht wissen können, wie lange eine Krise wie Corona dauert oder wie schwer sie noch wird, müssen wir verstärkt mit Szenarien arbeiten, also Bilder einer denkbaren Zukunft entwerfen.
Was bedeutet das genau?
Am Beispiel Corona könnte man, ganz spontan gesagt, in zwei Dimensionen denken: Wie lange dauert die Krise, und wie dynamisch entwickelt sie sich weiter? Kreuzt man beide Dimensionen, erhält man vier unterschiedliche Szenarien, die man durchdenken kann: Wie passt die Strategie zu diesen Szenarien, wo oder wann gibt es Anpassungsbedarf, welche Schritte sind robust, passen also zu mehr als einem Szenario, wo wird es kritisch, beispielsweise in der Liquidität. Szenarien haben zudem den Vorteil, dass sie Orientierung bieten. Mit Zahlen zu argumentieren ist schwierig. Aber Szenarien beschreiben Zukünfte, die man diskutieren kann.
Wenn ich mich als Chef vor meine Belegschaft stelle und sage: Ich weiß auch nicht genau, was passiert – zeigt das nicht Schwäche?
Nein, im Gegenteil, das zeigt Ehrlichkeit und damit Stärke. Denn Führungsstärke zeigen heißt auch, einmal offen zu sagen: Leute, ich weiß es auch nicht – aber wir machen uns Gedanken, haben Szenarien entwickelt und durchdacht und sind vorbereitet. Das ist immer besser, als eine Zahl zu kommunizieren, die morgen schon falsch sein kann.
Sie haben in Ihrem Buch „Gute Strategie: Der Ungewissheit offensiv begegnen“ eine Renaissance der Strategie gefordert. Das heißt: sich nicht nur auf Big Data und Algorithmen zu verlassen, sondern wieder „mehr Clausewitz“ wagen. Ist Corona ein Anlass, strategisches Denken wiederzubeleben?
Ja, denn wenn „der Druck schwierigster Bedingungen herrscht“ und „die Gefechtslage besonders unklar ist“, kommt es ganz besonders darauf an, sich ein kritisch reflektierendes Bild zu machen. Das habe ich auch in Wien auf dem Aufsichtsratstag der Österreicher gemerkt – die Zeit ist wieder reif für echte Strategie.
Eine denkbare Zukunft ist: Die Lage beruhigt sich bald. Andere sagen: Das wird die Globalisierung mit ihren Lieferketten für immer verändern, mit drei Zentren der Produktion, Amerika, Europa und Asien.
Die spannende Frage ist: Ist das Virus der Grund für eine Veränderung – oder der Anlass, ohnehin schon bestehende Entwicklungen zu beschleunigen? Denn der Handelskrieg hatte schon dazu geführt, dass Lieferketten überdacht werden, und dass China seinen Heimatmarkt stärken will, ist auch nicht neu. Es kann also sein, dass viele Prozesse, die nun stattfinden, ohnehin schon vorgedacht waren. Wobei ich nicht hoffe, dass das so ist, denn die globale Arbeitsteilung war und ist ein Wachstumstreiber, der eben auch hilft, Frieden zu sichern.
Hat dieses Virus tatsächlich die Wucht, die viele Beobachter ihm zuschreiben?
Ich denke, so singulär ist es nun auch nicht. Denken Sie nur an 9/11 oder die Finanzkrise. Das Problem ist nur, dass Corona schleichend kam – es war erst eine Krise weit weg in China, und jetzt ist es hier – und dass die Zeitdimension so ungewiss ist. Ich weiß vielleicht noch, dass in vier Wochen Ware fehlt, weil ein Schiff nicht abgefahren ist – aber wie lange das so weitergeht, ist völlig offen. Corona zu unterschätzen wäre sicher falsch.
Welches Szenario würden Sie denn für am wahrscheinlichsten halten?
Ich habe großes Vertrauen in Technologie und Wissenschaft und glaube, dass wir Corona beherrschen können. Anders gesagt: Ich glaube an die V-Kurve mit erheblichem Aufhol- oder Nachholpotenzial, wenn sich abzeichnet, dass das Virus in den Griff zu kriegen ist.
Das Interview mit Burkhard Schwenker ist in Capital 4/2020 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop , wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay