Momentan ist in Unternehmen viel die Rede von Komplexität. Meist mit dem Subtext, dass diese Komplexität überfordert, dass sie negativ ist, dass man sich „ihr stellen muss“. Das mag sein. Ein Blick in das Nachrichtenportal Ihrer Wahl, und der Eindruck des Unübersichtlichen, ja Chaotischen in der Welt scheint sich sofort zu bestätigen. Energiepreise, Ukraine, Arbeitszeitmodelle – you name it.
Unser Gehirn hört „Komplexität“ und fühlt „Überforderung“
Dumm nur, dass unser Gehirn keine Überforderung mag. Schon mit Denken tut es sich zeitweise schwer, aber sich einer komplexen und dauerhaften Überforderung im Außen zu stellen (begrifflich gemacht als „Transformation“), ist für unser Gehirn sehr anstrengend. Meist antwortet es wahlweise mit Rückzug, Frust oder Aggression. Man schaue sich den Stand der politischen Diskussion an, dann wissen Sie, was ich meine. Aber politisches Geplapper kann man zur Not noch ignorieren. Wenn es allerdings um die Zukunft der Firma, des Teams oder der eigenen Person geht, hört bei vielen bekanntlich der Spaß auf.
Interessanterweise ist unser Gehirn selbst der komplexeste uns bekannte Gegenstand im Universum. 100 Milliarden Nervenzellen verarbeiten 11 Millionen Sinneseindrücke pro Sekunde (!), wovon das Gehirn 40 (!) vollautomatisch ins Bewusstsein weiterschickt und dort aufbereitet. Und dabei baut sich das Gehirn im laufenden Betrieb ständig um. Es lernt und verlernt Fähigkeiten, baut neue Erinnerungen ein und managt mehr oder weniger gelungen unser Sozialleben. Ein Wunderwerk der Natur, das kann man mit Fug und Recht behaupten.
Denken und handeln gehören für unser Gehirn zusammen
Warum also mögen wir keine Komplexität im Außen, wenn unser Gehirn im Innern geradezu dafür gebaut ist, damit umzugehen? Die Antwort liegt im Handlungswillen des Menschen. Das Sprichwort „Der Mensch denkt, Gott lenkt“, mag vielleicht stimmen. Mehr noch gilt aber der Satz „Der Mensch denkt und will ebenfalls lenken“. Wir sind nun mal keine Geistwesen, sondern wollen unsere Welt physisch formen. Wir müssen uns selbst als handlungsfähige Individuen sehen, sonst gehen wir an der Welt zugrunde. Niemand hält es auf die Dauer aus, dass ständig etwas „mit ihm gemacht wird“, sei es als machtloses Kind, als Strafgefangener oder als Mitarbeiter, der im Change hin und her geschubst wird. Wir hassen es, ein Spielball fremder Einflüsse zu sein.
Wie bekommen wir also mehr Handlungsfähigkeit in unseren (beruflichen) Alltag? Die Lösung des Handlungsproblems ist nicht einfach. Wir können den Ukrainekrieg nicht allein beenden oder den Hunger in der Welt. Aber wir können uns auf die Dinge konzentrieren, die in unserer Macht, unserem Wirkungskreis liegen: die Arbeit mit dem Kollegen, im Team, in der Abteilung und der Organisation. Wir können die Komplexitätskräfte unseres Gehirns mit der Fähigkeit koppeln, gezielt und wirksam zu handeln. Alles, was wir dafür brauchen, ist eine realistische Einschätzung, wo wir Dinge bewegen können, und wo nicht.
Unser Gehirn ist dafür gemacht, mit anderen zu denken
Eine wichtige Regel des Radikalen Arbeitens lautet: Stehe für deine Überzeugungen ein und kultiviere deine Konfliktfähigkeit. Radikal Arbeiten gelingt in der gemeinsamen Arbeit an verbindenden Ideen, Themen und Projekten. Worte und Taten berücksichtigen dabei, dass wir alle am gleichen Strang ziehen. Warum ist gerade diese Regel wichtig, wenn es um Komplexität geht?
Am besten bewältigt man komplexe Situationen nicht allein, sondern mit anderen zusammen. Unsere Gehirne arbeiten dann am mächtigsten, wenn sie sich zur Problemlösung mit anderen zusammenschalten können. Das ist nicht nur effektiv, sondern kann auch Freude machen. Und auch die Komplexität erschreckt einen nicht mehr so sehr.
Soziales Lernen erhöht die Wahl- und Handlungsmöglichkeiten in komplexen Situationen. Das bedeutet für Führungskräfte: weg vom einsamen Feldherrnhügel, runter in die Ebene. Verantwortung und Entscheidungsmacht verteilen, den Menschen vertrauen, die man für teuer Geld eingestellt hat. Räume des sozialen Lernens schaffen und die Ergebnisse dieser Räume tatsächlich in der Organisation weiterverarbeiten.
Komplexität ist nichts, was uns schrecken muss. Wir tragen sie in Form unseres Gehirns in uns, seit unserer Geburt. Wir sollten sie umarmen – aber nicht allein, sondern in der Gruppe, im Team, in der Abteilung, in der Organisation. Denn nur gemeinsam lösen wir die Probleme, die allein unüberwindlich scheinen.