Kein Wort wurde zu Papier gebracht. Es gibt Unterhändler, unzählige Meetings finden statt – aber keine spezifische Forderung wurde vorgebracht. Die Frage „Was wollen Sie?“ ist tabu. Und eine Wunschliste kann es erst geben, nachdem jeder zusagt hat, die Wünsche zu erfüllen.
Willkommen zur surrealen Phase der britischen EU-Verhandlungen. Ein paar Brüsseler Veteranen sollen das Rätsel knacken, Beamte, die jahrelange Erfahrung darin haben, launenhaften Politiker zu dienen. Aber selbst für diese Zauberer der Bürokratie erweist sich die „britische Frage“ als besonders verwirrend.
„Wie beginnt man eine Verhandlung, wenn die sich weigern, einen Vorschlag zu machen“, fragt ein hochrangiger Beamter, der eine der zentralen Figuren in den Gesprächen berät. „Sagen Sie mir, wie? Niemand sonst will verhandeln, nur sie.“
ein Deal ohne formale Forderungen
Die britische Taktik ist von eiskalter Kalkulation bestimmt, in deren Zentrum die Kampagne für das Referendum über die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU steht. Wenn nämlich formale Forderungen der britischen Seite an die Öffentlichkeit geraten, werden die Befürworter eines Austritts sie als wertlos brandmarken. Noch schlimmer könnte es für Premierminister David Cameron kommen, wenn er die „wertlosen“ Veränderungen nicht durchsetzen kann, die er verlangt. Legt man diesen Maßstab an, wäre die geforderte Reform Europas ausgeblieben.
Dieses Szenario hat Downing Street überzeugt, dass der traditionelle Brüsseler Angang – hoch einzufliegen und dann zu feilschen – der Regierung diesmal nicht zur Verfügung steht. „Wir können nicht fünf Kuchenstücke verlangen und mit nur drei nach Hause kommen“, sagte ein hochrangiger britischer Regierungsvertreter.
Als Dänemark in den 90ern vor einem ähnlichen Dilemma stand, wählte es den Weg, Kritiker in Details zu ertränken – mit einem Positionspapier zur Reform der EU, das als Türstopper diente. Großbritannien versucht dagegen das EU-Äquivalent einer unbefleckten Empfängnis: ein Deal ohne formale Forderungen oder undichte Stellen.
Lösungsvorschläge sind willkommen
Neben den technischen Arbeiten gibt es auch eine politische Schiene. Cameron hat in den vergangenen fünf Monaten mehr von Europa gesehen als in seinen vergangenen fünf Jahren im Amt. Er war überall von Lissabon bis Bratislawa. Seine Mitarbeiter sind ermutigt von einer überwiegend positiven Resonanz – sogar vom sozialistischen französischen Präsidenten François Hollande.
Nach Ansicht eines führenden Vertreters auf Seiten Großbritanniens dient das alles dem Ziel, „dass unsere Partner dies als ein gemeinsames Problem betrachten“. Wenn andere Mitgliedstaaten Lösungen vorschlagen würden, sei dies willkommen. „Das ist nicht der richtige Moment, so es den überhaupt je gibt (,eine Wunschliste vorzulegen), so der britische Unterhändler.
Cameron will die Gespräche im kommenden Monat beschleunigen; Zyniker bezweifeln, dass es weiterhin so glatt laufen wird. „Wenn Du durch Europa reist, mit den Regierungschefs über Allgemeines redest und erklärst, dass Du vernünftig sein wirst, was erwartest Du, was sie dazu sagen?“, so ein hochrangiger EU-Diplomat. Erst wenn die Techniker und die Politiker aufeinandertreffen, werde die Herausforderung deutlich werden.
David Cameron steht von allen Seiten unter Druck. Und es wird für ihn ein schwieriger Balanceakt werden, mit der EU ein Abkommen auszuhandeln, das für Großbritannien akzeptabel ist.
Orchester ohne Noten
Es stimmt nicht, dass Cameron nicht gesagt hat, was er will. In Reden, Meinungsbeiträgen und einem Wahlprogramm hat der Premierminister vier Themenbereiche skizziert, die er vor dem britischen Referendum abhandeln will. Dazu gehört, dass vorhandene politische Initiativen der EU, wie weniger Regulierung und ein transatlantisches Handelsabkommen, angekurbelt werden. Dazu gehört auch, dass Sozialleistungen für Migranten eingeschränkt werden. Und dass die nationalen Parlamente mehr Entscheidungsbefugnisse bekommen und Nicht-Euro-Länder Sicherheiten.
Was er weggelassen hat, sind die operativen Details. Einige Politiken sind extrem spezifisch, aber nicht, was die Rechtsform betrifft. Für Verwaltungsmaschinerien wie die in Brüssel ist das Beamten zufolge ungefähr so, als fordere man ein Orchester auf ohne Noten zu spielen.
Zum Beispiel: Seit Juli haben technische Gespräche zur britischen Frage stattgefunden, manchmal wöchentlich. Ideen werden da ausgetauscht. Aber wenn ein britischer Vertreter fragt, ob etwas Bestimmtes legal wäre, stößt er auf eine Mauer der Eurokraten. Solche Zusagen seien unmöglich, wenn nicht präzise aufgeschrieben werde, was man wolle.
Das behindert auch die Suche nach einer Lösung für ein weiteres Rätsel: Wie erreicht man, dass die Reformen von Dauer sind? Großbritannien verlangt permanente und unumkehrbare Veränderungen. Aber vor dem Referendum ist nicht genug Zeit, um einen neuen EU-Vertrag – die Rechtsbibel für die Union – zu vereinbaren und zu ratifizieren. Einige Maßnahmen erfordern eine ordentliche Gesetzgebung, die bei Lichtgeschwindigkeit ungefähr ein Jahr in Anspruch nimmt (falls das Europäische Parlament zustimmt).
Cameron und seinen inneren Zirkel scheint das nicht zu sorgen. Sie glauben an die Genialität der EU-Rechtsexperten – und den Bulldozer-Effekt eines politischen Abkommens, wenn die großen Länder erst einmal auf Linie sind. Diejenigen, die sich über legale Feinheiten oder längst verflossene föderalistische Ideale sorgten, würden „zermalmt“, wenn Deutschland erst einmal an Bord sei, prognostiziert ein Minister zuversichtlich. So oder so: Die „britische Frage“ wird wahrscheinlich mit brutaler politischer Macht gelöst.
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