Mir scheint, hierzulande gibt es ein neues Lieblingsthema. Jedenfalls wird es in meinem Umfeld und auch in den Medien rauf- und runterdiskutiert: Dass die Zeit der „neuen Normalität“ angebrochen ist und wir sie doch gefälligst gut gestalten sollen. So als könnten wir – frei nach Pippi Langstrumpf – uns die neue Normalität machen, widdewidde wie sie uns gefällt.
Nun. Leider dreht uns diese neue Normalität eine lange Nase. Die lässt sich nämlich nicht einfach so machen …
Eine kurze Geschichte über das Fahrradfahren
Wie so viele Väter (und Mütter) vor mir habe ich versucht, meinen Kindern das Fahrradfahren beizubringen. Wobei hier schon der Hase im Pfeffer, bzw. in der Formulierung liegt: Denn nicht ich bringe meinem Kind das bei, sondern das Kind bringt es sich selbst bei. Das Wesentliche beim Erlernen des Fahrradfahrens ist bekanntlich, ein Gefühl für das Gleichgewicht zu entwickeln – und Gefühle entwickeln kann kein Mensch dem anderen abnehmen.
Aber natürlich habe ich es trotzdem versucht: Ich habe mein Kind bei den ersten Versuchen auf seinem Rad festgehalten und bin nebenher gerannt. Irgendwann kam der goldene Moment und ich habe losgelassen. Das Kind ist ein, zwei Meter in hohem Maße wackelig gefahren. Und welchen glorreichen Satz rufe ich ihm in diesem prekären Moment zu? Sie ahnen es: „Kind, du musst das Gleichgewicht halten!“
Ich gebe zu: Dieser Satz ist völlig bekloppt – und eigentlich weiß ich das auch. Mein Kind kann sich ja nicht entscheiden: „Okay, Papi hat es gesagt, dann werde ich ab jetzt ich das Gleichgewicht halten!“
Es ist also gestürzt. Und wir haben dieses Spiel noch mehrfach wiederholt: Das Kind trudelt, ich rufe, es fällt vom Rad. Doch irgendwann hat es dann auch geklappt – wie bei den meisten Kindern irgendwann. Wann genau, das lässt sich nicht vorhersagen. Das ist eben kontingent.
Dieser Moment des Klappens begründet sich nicht durch die Entscheidung des Kindes, nun endlich das Gleichgewicht zu halten. Und erst recht bin nicht ich als Vater der Grund, weil ich so oft gesagt habe, es solle das Gleichgewicht halten. Aber weil ich so inbrünstig gerufen habe, könnte ich in Versuchung kommen, zu glauben, ich hätte doch etwas bewirkt. Ich wäre eben doch die Ursache dafür, dass mein Kind nun Radfahren kann.
Würde ich das wirklich glauben, erläge ich einer naiven Machbarkeitsillusion. Ich gäbe mich der Illusion hin, ich wäre der Schöpfer der Fahrradkünste meines Kindes.
Aber das bin ich nicht. Mein Kind hat es selbst hinbekommen. Oder genauer gesagt: Es ist passiert.
Die neue Normalität passiert
Es gibt eine Menge Dinge, bei denen wir uns gerne einer Machbarkeitsillusion hingeben – obwohl wir nicht der Autor der Situation sind.
Schauen Sie nur in den ganz privaten Kreis hinein: Da gibt es Familien, deren Mitglieder ständig im Clinch miteinander liegen. Da ist immer schlechte Stimmung. Wenn sie sich überhaupt mal treffen, dann fliegen die Fetzen. Auf der anderen Seite gibt es Familien, die treffen sich dreimal die Woche, die unterstützen sich, haben ein wunderbares Auskommen und jedes Familienmitglied steht für das andere ein.
Aber das hat niemand entschieden, dass das so ist. Das haben die sich nicht gemacht. Tatsächlich haben sich die Familien das so eingehandelt, es hat sich hinter ihrem Rücken so entwickelt. Gleiches gilt für die Kultur in einem Unternehmen (hier könnte ich auch von Menschen, Ländern, Fußballmannschaften oder so sprechen).
Weiteres Beispiel: Der Unternehmenserfolg. Den macht niemand, niemand ist hierfür der Urheber. Vielleicht geben Sie als Führungskraft Ihr Bestes für das Klima im Betrieb, vielleicht versucht das Unternehmen, Produkte zu entwickeln, von denen es sich erhofft, dass sie den Erfolg bringen, vielleicht befolgen sie artig alle Rezepte der Verkaufstrainer. Und agil sind sie ja eh schon. Aber ob diese Bemühungen wirklich den erhofften Erfolg bringen, haben Sie nicht in der Hand. Vielleicht passiert es, vielleicht auch nicht.
Und so wird auch die neue Normalität passieren – entweder so oder so. Sie können das Beste hoffen, Sie können versuchen, Einfluss zu nehmen. Aber entscheiden können Sie die neue Normalität nicht. Glauben Sie etwas anderes, so erliegen sie einer narrativen Verzerrung.
Geschichte ist nicht machbar
Für uns Menschen ist es typisch, dass wir den Dingen gerne einen Sinn, eine Struktur geben. Dafür erzählen wir Narrative, also Geschichten, in denen es nur so von Helden und Bösewichtern wimmelt. So erklären wir uns im Nachhinein, warum etwas so und nicht anders gekommen ist.
Doch die Wirklichkeit kennt – anders als Hollywood und all die schönen Romane – keine Helden, keine Macher und auch keine Bösewichter. Keiner macht die Welt. Und selbst Donald Trump hat die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft nicht „gemacht“ – auch wenn sich insbesondere die deutschen Medien darauf eingeschossen haben.
Je öfter Sie die Geschichten erzählen oder hören, was Sie alles machen können, umso mehr glauben Sie daran, dass alles machbar sei. So wird die narrative Verzerrung zur wohligen Machbarkeitsillusion.
So wundert es mich nicht, dass sich viele gegenseitig dazu auffordern, die neue Normalität zu machen, vielleicht freiheitlicher, vielleicht weniger oder mehr kapitalistisch, vielleicht kollektiver oder auch individueller, vielleicht aufgeklärter und toleranter. Doch Tatsache ist: Wir können es nicht. Sie sind zwar Autor Ihres eigenen Narrativs, aber niemand ist der Autor einer wie auch immer gearteten besseren Gesellschaft – nicht einmal alle Menschen gemeinsam sind das.
Nur das Entscheidbare (Steuern, Renten, Subventionen …) entwickelt sich auf unseren Wunsch hin, das Unentscheidbare entzieht sich diesem, auch wenn Sie, und alle anderen, es ganz ganz dolle wollen. So wie die „neue Normalität“.
Wider den Fatalismus
Bevor Sie mich jetzt jedoch des Fatalismus beschuldigen, lassen Sie mich Einspruch erheben. Nur weil wir „nichts machen können“, heißt das nicht, dass wir nichts machen sollten.
Ich möchte also niemanden zum Fatalismus, sondern nur zu ein wenig mehr Demut anstiften. Demut vor der Machbarkeit von Zukunft.
Denn auch wenn ich nicht der Urheber der Fahrradfahrkünste meiner Kinder bin, so hatte ich dennoch Einfluss auf die ganze Geschichte. Mein Trösten, mein Mutzusprechen wirkten sich aus. Nur nicht kausal.
Diese Einsicht macht mich demütig insofern, dass es nicht einen erzwingbaren Weg in die Zukunft gibt. Nicht zum Fahrradfahrenlernen – und nicht in die neue Normalität.
Ich lege den Machbarkeitsanspruch oder, wenn Sie so wollen, meine Machbarkeitshybris ab – und werde gleichzeitig immun gegen Feindbilder. Denn es gibt keine Bösewichte, die mir die neue Normalität, wie ich sie mir wünsche, heimtückisch vorenthalten. Diese entsteht oder sie entsteht nicht.
Und ich kann Verantwortung für mein Handeln übernehmen. Denn das macht uns als Menschen aus: Mag das, was geschieht, am Zufall hängen, mag sich Geschichte einfach ereignen und nicht durch uns entschieden werden – wir sind als Menschen dennoch für unser Handeln verantwortlich. Und selbst, wenn wir nichts „machen können“, ist Fatalismus keine verantwortliche Haltung – Demut gegenüber dem Machbarkeitsanspruch dagegen schon.
Wir sind untrennbar mit dem Geschehen verbunden. Wir nehmen Einfluss, unsere Wünsche, unsere Träume, unsere Illusionen können einen Unterschied machen. Wie sie sich konkret auswirken, das liegt nicht in unserer Hand. Alles, was wir machen können, ist unser Bestes zu geben, Ideen entwickeln und realisieren, auf Illusionen achtgeben und uns nicht von Feindbildern ins Bockshorn jagen zu lassen oder falschen Helden hinterherzulaufen. Aber das ist schon ganz schön viel, finden Sie nicht?
Lars Vollmer ist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor. In seinem aktuellen Buch „Der Führerfluch – Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden“ stellt er den Krisen in unserem Land Ideen von Selbstorganisation und Eigenverantwortung entgegen.