So, die Phase der Schockstarre haben wir also hinter uns. Und die Blicke richten sich langsam wieder nach vorne, auch wenn das, was die Einzelnen dort vorne ausmachen, sehr unterschiedlich ist: Die einen sehen nur schwarz, während die anderen Silberstreifen am Horizont ausmachen. Und manch einer greift beherzt zur rosaroten Brille …
Positiv denkende Menschen sind mir ja grundsätzlich sympathisch. Nur wenn jetzt immer häufiger verkündet wird, dass die Welt „nach Corona“ doch so anders werde und wie viel doch Unternehmen aus der aktuellen Krise für die Zukunft lernen können, fühle ich mich genötigt, ein wenig Wasser in den Wein zu schütten.
Lernen für welche Zukunft?
Natürlich können Manager und Mitarbeiter die Erfahrung, die sie jetzt gemacht haben und noch machen, in der Zukunft nutzen – unter der Voraussetzung, dass die Zukunft aus einer Aneinanderreihung von immer neuen pandemischen Krisen besteht. Gut möglich, dass wir alle für solche Fälle besser vorbereitet sind, über mehr Schutzausrüstung verfügen, uns schneller auf die Lage einschwingen.
Für alles andere, was die Zukunft bringt, bin ich bezüglich großer Veränderungen in den Unternehmen extrem skeptisch. Ich könnte meine Skepsis mit Ihnen zum Beispiel anhand der unterschiedlichen Wettbewerbsumstände vor, während und nach dem Lockdown durchexerzieren: Wo Sie vorgestern noch damit beschäftigt waren, zu verfolgen, wo und wie Ihr Konkurrent Ihnen Ihre Kunden wegschnappt, hatte der gestern geschlossen. Genau wie Sie. Und Sie beide waren in dieser wettbewerbsarmen Zeit mit ganz anderen Dingen beschäftigt wie zum Beispiel der Sicherung der Finanzen und der Organisation der Kurzarbeit.
Ich will Ihnen aber meine Gründe an einem einfacheren Beispiel darlegen, das gerade in aller Munde ist.
Home minus Office
Nicht dass ich denke, dass Homeoffice die Arbeitswelt revolutionieren kann, denn wenn nicht die Anwesenheit das wahre Problem von Unternehmen war, wie sollte dann Homeoffice die Lösung sein? Das war es vor der Krise nicht und wird es auch danach nicht sein. Doch sei’s drum: Was ich Ihnen aufzeigen möchte, lässt sich an der Causa Homeoffice wunderbar illustrieren.
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Sagen wir, in Ihrem Unternehmen war Homeoffice vor dem Lockdown verpönt. Es gab zwar kein offizielles Verbot, trotzdem spürte jeder: Nur wenn du da bist, wirst du in dem, was du tust, anerkannt. Wenn sich der ein oder andere „Wild Duck“ dann doch mal einen Homeoffice-Tag erlaubte, begleiteten ihn Sprüche wie „Home-Office? Aha, Home Minus Office“. Es herrschte also eine Präsenzkultur.
Diese Kultur hatte keiner verordnet. Das war auch gar nicht nötig, denn sie gehörte einfach zum Spiel dazu. Und jede Organisation spielt ganz zwangsläufig irgendeine Art Spiel. Und selbst wenn Sie vielleicht ganz froh sind, dass Sie und auch Ihre Kinder aus dem Alter der Brettspiele heraus sind, lässt sich dieses Kultur-Ding hervorragend an Monopoly versus Siedler von Catan erklären.
Warum wir Straßen kaufen
In jedem Spiel gilt ein ganzes Set von Regeln, das alle befolgen. Diese Regeln wirken als – das ist jetzt Wissenschaftsdeutsch – Entscheidungsprämissen. Diese beeinflussen Menschen in ihren Entscheidungen für das eigene Verhalten.
Ein kleinerer Teil dieser Entscheidungsprämissen ist in einem Regelheft oder in Unternehmensvorgaben schriftlich festgehalten. Das heißt, für diese sogenannten entscheidbaren Entscheidungsprämissen hat sich jemand einmal bewusst entschieden.
Den anderen, größeren Teil jedoch hat weder ein Einzelner noch ein Gremium je wissentlich verfügt – und doch ist dieser Part da und wirkt. Diese nicht-entscheidbaren Entscheidungsprämissen sind einfach so entstanden, quasi hinter dem Rücken aller Akteure des Spiels.
Der landläufige Begriff für die Summe der nicht-entscheidbaren Entscheidungsprämissen ist „Kultur“.
So gibt es zum Beispiel bei Monopoly keine Regel, dass Sie Straßen kaufen müssen, wenn Sie die Gelegenheit dazu haben. Aber Sie merken als Spieler schnell: Nur einfach würfelnd im Kreis laufen, macht nicht wirklich Spaß. Außerdem ernten Sie die spöttischen oder ungläubigen Blicke Ihrer Mitspieler, denn Sie verletzten damit eine der nicht-entscheidbaren Entscheidungsprämissen, die sagt: Wer hier mitspielt, darf nicht vorsätzlich verlieren wollen.
Jede Kultur passt
Die entscheidbaren und die nicht-entscheidbaren Entscheidungsprämissen ergeben zusammen immer ein schlüssiges Set, das perfekt ineinandergreift. Die Kultur passt immer zum Rest des Spiels oder Unternehmens – auch wenn sie vielleicht nicht jedem beteiligten Akteur in den Kram passt.
Und je nach dem, welches Spiel Sie gerade spielen, richten Sie sich mehr oder weniger unbewusst in Ihrem Handeln danach. Würden Sie parallel bei einer Partie Monopoly und einer Partie Siedler von Catan mitspielen, würden Sie auf jedem Brett anders agieren. Denn Kultur steckt nicht in den einzelnen Spielern, sondern im Spiel selbst.
Was also passiert, wenn das Spiel, dass das Unternehmen spielt, auf einmal ein anderes ist?
Das andere Spiel
Von einem Tag auf den anderen hieß das Spiel „ Lockdown und alle ab ins Homeoffice “. Führungskräfte wie Mitarbeiter mussten schnell mit ganz neuen Regeln zurechtkommen – und sie lernten schnell. Die technischen Bedingungen dafür hinzukriegen, klappte bei den meisten ganz gut. Darüber hinaus entdeckten etliche Teams ein bisschen überrascht, dass sie ihre Basisfunktionen aufrechterhalten können, auch wenn keiner im Büro ist. Viele registrierten auch staunend, dass sich digitale Meetings strukturierter und kürzer gestalten. Und nicht wenige Mitarbeiter sind richtig begeistert, wie viel leichter sie Weiterbildung in ihren Tag integrieren können.
Die Erfahrung, dass im Homeoffice auch richtig zum Wohle des Unternehmens gearbeitet und zusammengearbeitet werden kann, haben also die meisten gemacht. Und der Gedanke liegt nahe, dass – wenn alle wieder ins Büro dürfen – die Präsenzkultur stillschweigend beerdigt werden könnte. Ob es aber wirklich so weit kommt, hängt nicht von dem Gelernten, sondern maßgeblich von dem Spiel ab, dass das Unternehmen nach dem Lockdown spielen wird …
Und was spielen wir heute?
Denn stellen Sie sich vor, wie das ist, wenn alle aus den Homeoffices zurückkehren: Alle sehen sich erst einmal um und fragen sich, was jetzt zu tun ist. Es folgt eine Phase des Neu-Anlernens – und hier geht der Fächer der Möglichkeiten weit auf.
Ich bin sicher, es wird nicht wenige Unternehmen geben, in denen Beteiligten sagen: „Ach, guck mal! Das sind ja die gleichen Wettbewerber und die gleichen Aufträge, die wir vorher auch bearbeitet haben, nur halt ein paar weniger.“ Alle gemeinsam nehmen also ein Spiel auf, was ihrem alten weitgehend gleicht. Und damit werden sie auch weitgehend zu ihrer alten Kultur zurückkehren. Mag sein, dass sich nur die Sprüche ändern, falls wieder mal einer wagt, ins Homeoffice zu gehen: „Na, gönnst du dir wieder mal einen Quarantäne-Tag?“
Wirklich verändern wird sich die Kultur nur, wenn das Spiel ein anderes wird.
Tut mir leid, Herr Grupp!
Wenn zum Beispiel bei der Rückkehr Ihr Geschäft in Schutt und Asche liegt, dann spielen Sie vielleicht – auch wenn es makaber klingt – erst einmal das Überlebensspiel weiter, wenn auch ohne Homeoffice.
Oder aber Sie haben schon während des Lockdowns eine Chance gesehen und ein ganz neues Geschäft entwickelt. Sie haben sich auf einen neuen Markt gestürzt, der nach ganz anderen Regeln funktioniert. Und wenn Sie dort Fuß fassen, wird sich Ihre Unternehmenskultur verändern – ob Sie wollen oder nicht.
Ich weiß ja nicht, ob Herr Grupp, der Trigema-Unternehmer, dauerhaft Schutzmasken produzieren möchte. Falls er es täte, würde er damit in einen ganz anderen Markt eintreten als zuvor, mit anderen Entscheidungsprämissen und anderen Problemen, die es zu lösen gilt. Das würde kulturell in seinem Laden unglaublich viel verändern – und noch nicht einmal ein Wolfgang Grupp könnte exakt vorgeben, wie.
Spieleröffnung
Egal, welches Spiel Sie morgen oder übermorgen mit Ihrem Unternehmen spielen werden – ob weitgehend das alte oder ein ganz neues: Es wird sich die passende Kultur (wieder) einstellen. Und wenn Sie mitspielen wollen, machen Sie mit, statt sich an einzelnen Regeln abzuarbeiten, die Sie in Ihrer Kultur für ungünstig halten.
Wenn Ihnen aber die Regeln insgesamt so gar nicht gefallen, suchen Sie sich besser ein anderes Spiel. Und jetzt oute ich mich ganz zum Schluss doch noch als Optimist, wenn ich Ihnen sage: Es eröffnen sich gerade jede Menge andere Spiele …
Lars Vollmer ist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor. In seinem aktuellen Buch „Der Führerfluch – Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden“ stellt er den Krisen in unserem Land Ideen von Selbstorganisation und Eigenverantwortung entgegen.