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Köpfe Mit Bionik ohne Behinderung leben

Die Natur ist das Vorbild für synthetische Gliedmaßen. Hugh Herr gewährt einen Einblick in die Möglichkeiten der Bionik
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© MIT/Bryce Vickmark

Hugh Herr ist Biophysiker und Leiter der Biomechatronic-Forschungsgruppe am MIT Media Lab.
Die Autoren: Stephan Balzer und Christopher Kabakis sind für die Agentur red onion tätig, die die TEDx-Events in Berlin, Hamburg und München unterstützt. TED, ein Innovationskonferenz-Format aus den USA, steht für Technology, Entertainment und Design und hat sich dem Motto „ideas worth spreading“ verschrieben. Die nächste TEDxHamburg findet am 22. Juni 2015 in der Laeiszhalle Hamburg statt.

Dem heutigen MIT-Professor Hugh Herr widerfuhr 1982 als junger Mensch ein schreckliches Missgeschick. Bei einem Kletterunfall verlor er beide Beine. Doch Herr weigerte sich damals, seinen Körper als „gebrochen“ oder „behindert“ anzusehen. Stattdessen sah er die zu dieser Zeit verfügbare Technologie als „gebrochen“ oder „behindert“ an. Diese Sichtweise wurde zur Triebkraft seines Lebens: Es hat es zu seiner Mission gemacht, Technologien zu entwickeln, damit er und andere Betroffene nicht mehr beeinträchtigt sein müssen.

Er begann mit der Entwicklung spezieller Beine, die es ihm ermöglichten wieder zu klettern und bergsteigen. Der künstliche Teil des Körpers wurde zum formbaren Teil, der jede Form oder Funktion annehmen konnte, über die biologischen Möglichkeiten hinaus. Verschiedene Beintypen erlaubten im steile Felsspalten zu erklettern, wo menschliche Füße keinen Halt finden, oder vertikale Eiswände ohne muskuläre Ermüdung zu besteigen.

Herr ging anschließend an die Universität und begann an der Schnittstelle von Biologie, Design und Technologie zu forschen. Am MIT Media Lab schuf er das “Center for Extreme Bionics”, das Zentrum für Extreme Bionik, dessen Ziel es ist, biomechatronische und regenerative Reparaturen von Körper- und Gehirnschäden zu ermöglichen. Bionik bedeutet dabei in erster Linie die Gestaltung der mechanischen, dynamischen und elektrischen Schnittstellen.

Technologie für mehr Bewegungsfreiheit

Ein Beispiel für die mechanischen Innovationen, die Herr vorantreibt, ist die Schaffung von künstlicher Haut und Gewebe, die im Grad ihrer Festigkeit variieren können, so dass sie die darunterliegenden biologischen Gewebemechanik spiegeln. Mit bildgebenden und robotischen Daten werden dazu mathematische Modelle von beispielsweise einem biologischem Bein erstellt und die Gewebebeschaffenheit ermittelt. Auf dieser Basis wird dann synthetische Haut erstellt, die dort weich ist, wo der Körper hart ist, und dort hart, wo der Körper weich ist, so dass ein optimaler Tragekomfort möglich wird.

In Zukunft werden Kleidung, Schuhe, Zahnspangen und Prothesen durch solche datengetriebenen quantitativen Methoden erstellt werden, prognostiziert Herr. Im Bereich der mechanischen Schnittstellen werden weiterhin fühlende und „smarte“ Materialien in die synthetische Haut eingefügt, welche unter elektrostatischen Effekten den Steifheitsgrad ändert und dadurch eine größeren Bewegungsreichtum mit den bionischen Gliedmaßen ermöglicht.

Im Bereich der dynamischen Schnittstellen wird analysiert, wie Menschen mit normaler Physiognomie stehen, gehen und laufen und auf dieser Basis werden bionische Gelenke, Knie und Hüften gestaltet. Beim Aufsetzen der Ferse wird computergesteuert die Steifheit angepasst, um den Schock abzufedern, und in der Mitte der Gehbewegung nutzt das bionische Bein ein hohes Drehmoment und Kraft um das Bein in der Gehbewegung zu unterstützen, analog zum Verhalten von Muskeln in der Wade. Weiterhin werden mittlerweile Exoskelette gestaltet, um normal funktionierende Muskeln zu entlasten.

Schließlich wird bei den elektronischen Schnittstellen die Kommunikation zwischen den bionischen Gliedmaßen und dem Nervensystem neu justiert. Elektroden am biologischen Restbein messen die elektrischen Impulse der Muskeln – wenn also z.B. Hugh Herr daran denkt, sein Phantombein zu bewegen, erfasst der Roboter diesen Bewegungswunsch und kann ihn umsetzen. Die Sensitivität des Reflexes (der modellierte Rückenmark-Reflex) wird mit dem Nervensignal moduliert, so dass wenn Herr seine Muskeln im Restbein entspannt, auch im bionischen Bein wenig Drehmoment und Kraft entfaltet wird. Und je mehr er die Nervenzellen in seinen Muskeln feuern lässt, desto mehr Drehmoment und Kraft generiert er und kann dann sogar laufen.

Recht auf ein Leben ohne Behinderung

Die Zukunft wird noch viel weiter gehen: Der Kreislauf zwischen dem menschlichen und dem externen bionischen Gliedmaßen soll bald komplett geschlossen werden. Dazu gibt es bereits Experimente mit Mikro-Schaltkreisen, die die Funktion abgetrennter Nerven übernehmen sollen. Ist dies erfolgreich, werden Menschen mit synthetischen Gliedmaßen sich nicht nur bewegen können wie Menschen mit Gliedmaßen aus Fleisch und Blut, sondern sie werden sie auch wie Fleisch und Blut fühlen.

Hugh Herr ist der Überzeugung, dass grundlegende physiologische Funktionen den Rang von Menschenrechten haben sollten, dass jeder Mensch das Recht haben sollte, ein Leben ohne Behinderung zu führen, wenn derjenige es wünscht. Durch technologische Innovationen können wir unsere Einschränkungen überwinden und noch in diesem Jahrhundert sicherstellen, dass Behinderungen der Vergangenheit angehören werden.

Den ganzen, faszinierenden TED Talk inklusive Live-Demonstrationen der neuen bionischen Gliedmaßen (sogar beim Tanzen) können Sie hier sehen:

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