Capital: Herr Krauss, Sie sind mit Flixbus seit einigen Jahren in der Ukraine aktiv. Wie haben Sie den Tag erlebt, an dem Russland dort einmarschiert ist?
DANIEL KRAUSS: Um 5.30 Uhr morgens hat mich unser Büroleiter aus Charkiw angerufen. Wir haben dort seit 2013 ein Entwicklerbüro mit 26 Kolleginnen und Kollegen, seit 2019 fahren auch unsere Busse in der Ukraine. Er sagte: Jetzt ist es so weit, wir müssen die Evakuierungspläne in Bewegung setzten. Es war völlig surreal.
Wie haben Sie reagiert?
Wir haben erstmal alles daran gesetzt, unsere Teams in Charkiw und Kiew schnellstmöglich in Sicherheit zu bringen. Bis heute haben wir täglich Kontakt. Ein Teil ist noch in der Ukraine, vor allem die männlichen Kollegen. Teilweise sind sie aber auch nach Berlin, München oder Warschau ausgereist, wo wir sie jetzt unterstützen.
Was macht das mit Ihren Mitarbeitern?
Die meisten unserer ukrainischen Kollegen versuchen, ganz normal weiterzuarbeiten. Das finde ich sehr beeindruckend. Für sie ist das ein Stück Normalität. Das funktioniert natürlich nur, wenn sie körperlich in Sicherheit sind. Wir bieten dem gesamten Team zusätzlich psychologische Hilfe an. Einige von ihnen unterstützen auch unser osteuropäisches Team bei Hilfsaktionen.
Wie genau sieht die Hilfe aus?
Um kurz nach acht Uhr morgens am Tag des Überfalls haben wir uns mit den Kolleginnen und Kollegen darüber unterhalten, was wir tun können. Da kam unter anderem die Idee auf, unsere Mitarbeitergutscheine zur Verfügung zu stellen. Normalerweise können damit nur Flix-Mitarbeiter ein kostenloses Ticket lösen. Wir als Management haben die Anzahl dann noch einmal verdoppelt. Inzwischen haben wir so knapp 7.000 Freifahrten gesammelt. Viele kaufen aber auch eine reguläre Fahrkarte. Wir fahren ja immer noch von Lwiw über die Grenze nach Polen und Rumänien. Am Anfang hatten wir auch noch Linien aus Kiew am Laufen.
Wie viele Menschen konnten Sie schon aus dem Land bringen?
Stand heute sind es etwa 30.000 Menschen.
Und wie geht es dann weiter? Wo bringen Sie die Menschen hin?
Menschen können weiterhin normal unseren Linienverkehr buchen, unter anderem aus Polen oder Rumänien. Zudem bieten wir auch individuell organisierte Fahrten für NGOs und Botschaften an, um Menschen ab der Grenze in Sicherheit zu bringen oder Hilfsgüter zu liefern. Mittlerweile haben wir mehr als 20 Tonnen Lebensmittel, Erste-Hilfe-Ausrüstung und andere Spenden an die polnisch-ukrainische Grenze gebracht. Am Umschlagpunkt im polnischen Przemyśl haben wir Leute vor Ort, die die Koordination übernehmen.
Wer finanziert das alles?
Die Transportkosten übernehmen wir als Unternehmen und auch unsere Buspartner. Ansonsten erfahren wir viel Unterstützung von Privatpersonen, NGOs, befreundeten Start-ups und Investoren.
Wie sind die Reaktionen auf die Aktion? Bekommen Sie staatliche Unterstützung?
Bislang haben wir für unsere Hilfsaktion keinen einzigen Euro aus der deutschen Staatskasse bekommen. Am Anfang standen wir mit unseren Bussen mehr als neun Stunden an der deutsch-polnischen Grenze, weil die Beamten bei jedem Flüchtenden die Fingerabdrücke gesichert haben. Die Länder an der ukrainischen Grenze waren da wohl deutlich pragmatischer, vor allem Polen. In Deutschland stößt man dann schnell auf die nackte Bürokratie. Wir sind Weltmeister in Erbsenzählerei. Das ärgert mich schon. Gleichzeitig bin ich unfassbar stolz auf meine Kolleginnen und Kollegen und all die freiwilligen Helferinnen und Helfer, die Tag und Nacht im Einsatz sind. Diese Just-do-it-Kultur, die wir als Start-up haben, hilft uns jetzt sehr. Und natürlich stehen wir der Politik jederzeit als Gesprächspartner zur Verfügung, um unsere Kompetenzen zum Wohle der Geflüchteten einzusetzen.
Wie geht es jetzt weiter?
Wir machen weiter, solange wir können und so lange es einen Bedarf gibt. Ich hoffe, dass das ein überschaubarer Zeitraum sein wird. Nicht, weil es für uns anstrengend ist, sondern weil die Nachrichten aus der Ukraine einfach unerträglich sind. Auf den Bildern aus Charkiw habe ich einige zerbombte Straßenzüge gesehen, die ich selbst kenne. Unser Büro steht noch, die Leute sind aber zum Glück alle in Sicherheit.
Flixbus steuert seit 2019 auch Moskau und einige andere Städte in Russland an. Was passiert jetzt mit dem russischen Geschäft?
Wir haben zusammen mit unserem Team vor Ort entschieden, unser Geschäft in Russland und Weißrussland zu stoppen. Schlicht und ergreifend, weil wir das für moralisch angebracht halten. Wir sind im ständigen Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen in Moskau und unterstützen das Team nach allen Möglichkeiten. Für uns ist ganz klar, dass unsere russischen Mitarbeitenden nichts mit dem schrecklichen Angriff ihres Präsidenten zu tun haben. Wer für Flix arbeitet, steht auch für unserer Werte ein.