Sven-Oliver Pink schwärmt gerade von der Zukunft, als er sich eine Ermahnung einfängt, die sich gewaschen hat. „Halt!“, brüllt ein Mann mit Helm und schweren Schuhen, „ihr dürft hier nicht stehen!“ Vor Pink klafft eine riesige Baugrube, aus der Kräne und Baustahlstreben ragen, hier wird gerade das neue, topmoderne Hauptquartier seiner Firma hochgezogen. Weil der Ort im Moment aber eine Baustelle ist und Pink nicht durch den offiziellen Zugang, sondern durch eine Lücke im Bauzaun hierhergelangte und außerdem weder schwere Schuhe noch Helm trägt, muss er sich nun die Belehrung eines Vorarbeiters anhören.
„Sie haben vollkommen recht“, beschwichtigt Pink. Und verwickelt den Mann in ein Gespräch, an dessen Ende er doch das Okay bekommt, mit seinen Besuchern ein paar Minuten auf der Baustelle zu bleiben.
Sven-Oliver Pink hat vor fast zehn Jahren mit drei Freunden einen Hersteller von Schulrucksäcken gegründet, in einem Markt, der als starr und verteilt galt, gegen schier unangreifbare Konkurrenten. Heute setzen sie mit Marken wie Ergobag, Satch und Pinqponq in 30 Ländern 55 Mio. Euro um. Sie beschäftigen 220 Mitarbeiter, die 2019 in den Neubau ziehen sollen, das digitalste Bürogebäude Deutschlands, mit 500 Arbeitsplätzen auf sieben Geschossen.
Ein guter Gründer muss Vorgaben auch mal ignorieren
Pink hat all das geschafft, weil er es gewagt hat, sich nicht an jede Regel zu halten. Ein guter Gründer muss Vorgaben auch mal ignorieren; er muss mit Erwartungen brechen und seine eigenen Regeln schaffen. So wie Pink an diesem Tag, als er die Lücke im Bauzaun entdeckt. Vor allem aber: so wie Pink, als er damals die Lücke auf dem Millionenmarkt für Schulranzen entdeckt.
Da ist zum Beispiel ihr Umgang mit der DIN-Norm 58124. Seit 1990 regelt der Industriestandard in 16 Unterpunkten, wie in Deutschland ein Schulranzen auszusehen hat: dass mindestens 20 Prozent der Außenfläche aus fluoreszierendem Material sein müssen, dass der Ranzen wasserabweisend zu sein hat und dank Kastenbauweise stabil bleiben soll. Als Pink und seine Mitgründer 2008 erstmals ernsthaft überlegen, ins Geschäft mit den Ranzen einzusteigen, ist dieser Markt fest in der Hand der Traditionsmarken Scout, McNeill und Hama. Deren Modelle haben sich seit gut 30 Jahren, als Polyesterranzen den Ledertornister ablösten, kaum verändert. So will es schließlich die DIN-Norm, und die Marktführer fahren gut damit.
Die Angreifer um Pink gehen einen radikalen Schritt. Sie versuchen gar nicht erst, der Norm gerecht zu werden. „Wir haben irgendwann gesagt: Wir machen nicht den 38. Schulranzen, sondern etwas, das es noch gar nicht gibt“, sagt Pink. Einen Schulrucksack ohne feste Außenwände, sondern knautschbar; aus recyceltem Material, mit Klettverschlussstickern, die nach Alter oder Laune getauscht werden können; und der vor allem ergonomisch vorteilhaft ist: dank gepolsterter Beckengurte und höhenverstellbaren Schulterträgern. Sie nennen ihn erst Physiobag. Dann Ergobag.
Salatbar oder Sandale
Die Idee dazu kommt Mitgründer Florian Michajlezko 2008 auf einer Party, bei einem typischen Small Talk unter Gästen. Eine Physiotherapeutin berichtet, dass in ihre Praxis immer mehr Kinder mit Rückenproblemen kämen – kein Wunder, die Ranzen seien viel zu schwer und nicht höhenverstellbar. Michajlezko denkt: komisch eigentlich. Bei Wanderrucksäcken ist das doch Standard. Könnte man das nicht auf Schulranzen übertragen?
Man muss dazu wissen, dass Pink und Michajlezko sich lange kennen, zusammen während des Studiums erst bei einem Finanzvertrieb gearbeitet, dann selbst einen gegründet und diesen 2006 für 1 Mio. Euro an American Express verkauft haben. Und dass sie auf der Suche nach einer neuen Geschäftsidee sind. Michajlezko, Jahrgang 1984, hat sich eine Auszeit genommen, reist durch Australien. Aber sie halten Kontakt, spielen monatelang Ideen-Pingpong. Sie diskutieren etwa, ein Salatbar-Modell zu starten. Oder einen rutschfesten Frotteeslipper groß zu machen, dessen Erfinder Pink kennengelernt hat. So richtig überzeugte sie aber nichts davon.
Das ist 2009 anders: Michajlezko legt los, recherchiert – und realisiert, dass es wirklich nur feste Schulranzen in Deutschland gibt. Er stellt ein Team zusammen, zuerst sind sie zu viert, dann bleiben drei übrig: der Investmentbanker Oliver Steinki, der sich zunächst aus der Schweiz um die Finanzen kümmert, dazu die Kölner Kerntruppe mit Michajlezko und Pink, beide BWLer, zwei Macher aus Leidenschaft. Pink hat schon als Kind Zeitungen ausgetragen, Michajlezko Kastanien vor dem Aldi in seiner Heimatstadt Kleve verkauft.
Den ersten Prototyp flicken sie innerhalb von vier Tagen zusammen. Im Rückblick: total irre. „Heute dauert es zwei Jahre, bis ein Produkt auf den Markt kommt“, sagt Pink. Im Showroom der aktuellen Firmenzentrale, die bis unter die Decke mit bunten Rucksäcken vollgestopft ist, fischt Pink hinter einer Stellwand das Ursprungsmodell hervor. „Heute kokettiere ich immer damit und sage: Das ist mit Abstand der schlechteste Schulrucksack, der je auf den Markt gekommen ist.“ Er demonstriert die Unzulänglichkeiten: Die Beckenflossen waren eher Bauchflossen, die Blinklichter gingen verloren, die Reflektoren brachen, der Rucksack fiel um. Aber: „Für Flo und mich war das die beste Schultasche, die wir bis dahin gemacht hatten. Dementsprechend leidenschaftlich waren wir.“
Sie denken klein am Anfang: Im ersten Businessplan heißt es noch, Ergobag wolle sich in den ersten Jahren nur auf NRW fokussieren. Dafür ziehen sie nach Köln – eigentlich keine schlechte Wahl, von hier aus kann man im Umkreis von zwei Autostunden über 20 Millionen Kunden erreichen. Und wenn sie die Rucksäcke nicht schnell genug abverkauft bekommen, „dann stellen wir uns halt auf den Flohmarkt und verticken die zum Einkaufspreis“, erinnert sich Pink. „Wir dachten: Wir werden schon nicht pleitegehen.“ Um zu sparen, geben sie sogar ihre Wohnungen auf. Michajlezko schläft bei einem Freund auf der Couch, Pink im hinteren Teil ihres Ladenlokals im Stadtteil Ehrenfeld. Von hier tasten sie sich in den Markt vor. Der ist ganz überwiegend geprägt von inhabergeführten Lederwarenfachgeschäften. Und bei denen gilt es nun, vorstellig zu werden.
Auf Ochsentour
„Dürfen wir Ihnen den ersten ergonomischen Schulrucksack vorführen?“ Im Oktober 2009 beginnen die beiden mit der Vertriebsochsentour. Jeder fährt drei bis acht Händler pro Tag an, aus dem Auto heraus werden die nächsten Termine gemacht. Die Händlerliste ziehen sie sich einfach aus dem Internet, nutzen dafür die Suche auf der Website eines Konkurrenten. Im Frühjahr 2010 haben sie bereits 90 Fachhändler an Bord. Die Erfahrung aus dem Finanzvertrieb hilft. „Wir haben uns immer gesagt: Wenn wir Versicherungen verkaufen können, können wir später alles verkaufen!“ Durch eine Mischung aus begeisterter und unermüdlicher Vertriebsarbeit, einem innovativen Produkt und einer gewissen naiven Grundhaltung, die sie mutiger und schneller macht als ihre Wettbewerber, wird Ergobag in kurzer Zeit zu einer Erfolgsgeschichte.
Auf dem Weg nach oben wird eine weitere Zutat für das Erfolgsrezept wichtig: die Entwicklungsgeschwindigkeit. Mit jeder Saison nehmen die Ergobag-Macher das Feedback ihrer Kunden auf und verbessern ihr Modell. „Wir hatten ja überhaupt keine Ahnung, was Kinder oder Eltern brauchten“, sagt Pink. „Daher waren wir gezwungen, mit denen zu reden.“ Sie nutzen jede Gelegenheit dafür – gehen zu Elternabenden, in Vereine und Kindergärten. In der Theorie heißt das Lean Startup: so schnell wie möglich an den Markt gehen, statt sich erst für Jahre im Entwicklungslabor zu verschanzen oder langwierige Marktforschung zu betreiben. Dirk Schülgen, der vergangenes Jahr als erster Fremdmanager zum Unternehmen gestoßen ist, lobt die Gründer dafür: „Lernen direkt am Kunden – was kann es Besseres geben?“
Es dauert nicht lange, da erkennen die etablierten Hersteller die Gefahr durch die junge Konkurrenz. 2012, 2013 haben auch sie auf einmal ergonomische Modelle im Angebot, seither versuchen sie, sich mit eigenen Innovationen zu verteidigen. Der bayerische Mittelständler Hama, seit 1995 im Markt und jahrelang solide Nummer drei, wird in der Saison 2018/19 den ersten Schulranzen mit elektrisch verstellbarem Beckengurt vorstellen. Vertriebschef Frank Wäsler wirbt zudem für Applikationen mit Magnettechnik: „Die Magic Mags bescheren uns einen Riesenhype.“ Zu Ergobag sagt er: „Die sind uns teilweise enteilt. Wir versuchen natürlich, die Lücke zu schließen.“
Wie sich der schätzungsweise 200 Mio. Euro große Markt genau aufteilt, ist nicht bekannt. Die Nürnberger Steinmann Gruppe, die die Marken Scout und 4You vertreibt, musste aber bereits 2017 einen Standort schließen. Man versuche, „sich mit echten Innovationen im Markt zu profilieren“, so die Geschäftsführung. Ansonsten gelte: „Märkte und Produkte verändern sich laufend, Ergobag ist ein Wettbewerber wie jeder andere auch.“
Die Kölner Angreifer haben dabei längst nicht mehr nur den Schulranzenmarkt im Blick. In Pinks Audi quattro geht es zum zweiten Standort, einer alten Wagenfabrik im Ehrenfelder Westen. Hier herrscht kreatives Chaos: Stapel von Kartons, dazwischen Kleiderständer, Schneiderpuppen, an den Wänden Skizzen und überall und immer wieder Rucksäcke. Es ist der Ort, wo an den jüngeren Projekten des Unternehmens gearbeitet wird: Aevor zum Beispiel, eine hippe, urbane Rucksacklinie, oder Salzen, eine Marke für edle Businesstaschen. Seit 2012 mit Satch ein Modell für ältere Schüler an den Start ging, haben die Gründer jedes Jahr eine neue Marke gelauncht. Ergobag bleibt die Keimzelle – drumherum ist aber ein kleines Markenuniversum entstanden. Die Firma selbst hat sich 2014 in Fond of Bags umbenannt, seit vergangenem Jahr heißt man nur noch Fond of.
Den Markenaufbau übernehmen stets die Gründer. „Da bin ich jedes Mal leidenschaftlich dabei, ich liebe das in dem Moment“, erzählt Pink. „Ich denke da an nichts anderes. Und kann dann auch nicht mehr so für Ergobag brennen.“ Das machen nun andere. Die Gründer müssen das Unternehmen so aufstellen, dass es ohne sie funktioniert. Das heißt auch: loslassen. Denn nicht jeder Gründer ist ein guter Manager. „Ich bin gut darin, Dinge anzustoßen“, gibt Pink zu, „aber nicht darin, komplexe Organisationen zu managen.“ Stück für Stück ziehen sich Michajlezko, Pink und Steinki aus dem Tagesgeschäft zurück. 2017 kommt der Ex-Nike-Manager Schülgen, in diesem Jahr fängt ein zweiter Geschäftsführer an. Ihre Aufgabe ist auch, das Unternehmen erwachsen werden zu lassen. Schülgen erzählt: „Wenn man vom Konzern kommt, verflucht man ja teilweise die ganzen Prozesse. Hier ist es eher so: Okay, ein bisschen Strukturen brauchst du schon.“
Fühlt sich das komisch an?
Als Antwort erzählt der Gründer von einem Meeting, zu dem vor wenigen Wochen alle Mitarbeiter und Vertriebler eingeladen waren. Zum ersten Mal stand Pink nicht vorn auf der Bühne, er saß im Publikum, Schülgen moderierte. Nach und nach präsentierten die Teams ihre aktuellen Projekte. „Und ich dachte: Wow, dieses Unternehmen hat sich echt von uns emanzipiert. Das entwickelt sich jetzt ohne uns. Und ist eigentlich nicht mehr aufzuhalten.“ An neuen Ideen mangelt es ihnen nicht. Sie überlegen, in den Koffer- und Kinderschuhmarkt zu expandieren, sie investieren in Start-ups. Und dann ist da ja noch der Neubau.