Ganz Deutschland tritt gerade zurück. So fühlt es sich jedenfalls an, wenn im Land der 80 Millionen Bundestrainer der Weltmeister Jogi Löw seinen Hut nimmt. Aber um ehrlich zu sein: Zu anderen Rücktritten habe ich derzeit deutlich mehr zu sagen. Wenn auch nicht zu den Rücktritten selbst …
Die falsche Verantwortung
Es geht um die Bundestagsabgeordneten Nüßlein (CSU), Löbel (CDU) und Hauptmann (CDU), die wegen Korruptions- und Lobbyismusvorwürfen ihre Mandate niedergelegt haben und zum Teil aus ihren Parteien ausgetreten sind. Juristische Verfahren sind eingeleitet. Wenn sie sich der Verfehlungen schuldig gemacht haben sollten, dann folgen persönliche Strafen. So weit, so richtig. Doch mein Punkt ist ein anderer.
Was ich wirklich bemerkenswert finde, ist das ermüdende Schauspiel, das sich jedes Mal rund um solche Rücktritte entspinnt: Bei Bekanntwerden der Anschuldigungen springt zunächst die öffentliche Empörung an. Reflexartig werden Finger ausgefahren und in Richtung der einzelnen Person gezeigt – verbunden mit der Aufforderung „sie sollen die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen“. Dabei hat so ein Rücktritt wenig mit echter Verantwortung zu tun. Ich glaube, da verwechseln manche Verantwortung mit Buße.
Na ja, aber wenn dann der- oder diejenige zurückgetreten ist, ebbt der Sturm der Entrüstung auch schnell wieder ab. Dann ist wieder Ruhe. Schließlich ist das „Problem“ beseitigt.
Wirklich?
Die unendliche Reihe
Die Liste der Skandale in Wirtschaft und Politik ist lang, bei denen Sie diese Mechanik jedes Mal aufs Neue ablaufen sehen konnten: Denken Sie an Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg oder Annette Schavan mit ihren hingeschluderten Doktorarbeiten, an Christian Wulff, der sich verdächtig günstige Kredite geben ließ, an Ulla Schmidt, die sich ihren Dienstwagen an den Urlaubsort in Spanien holte, an Helmut Kohl, der dubiosen Spendern sein Ehrenwort gab, oder an den ADAC mit seinen manipulierten Auszeichnungen, an Thomas Middelhoff, der sich kurz vor der Pleite als Arcandor-Chef noch einen 2,3-Millionen-Bonus gönnte, an die Telekom-Chefs, die Manager, Journalisten, Gewerkschaftler und Aufsichtsräte bespitzelten, an die über 4000 Schmiergeldzahlungen, die bei Siemens aufgedeckt wurden oder an das Unternehmen, in dem anscheinend die meiste kriminelle Energie in Deutschland gärt: an VW und seine zahllosen Affären.
Ich glaube, dass ich mich nicht allzu weit aus dem Fenster lehne, wenn ich behaupte: Diese Reihe an Skandalen in Politik und Wirtschaft wird mit den jetzigen Rücktritten keinesfalls abreißen. Denn die Rücktritte sind aus meiner Sicht so etwas wie Schmu: Sie sind selbst ein kleiner Schwindel und ändern nichts am eigentlichen Problem. Im Gegenteil.
Der eine Schuldige
Ist nämlich der Vorfall erst einmal unter dem Baldachin der juristischen Beurteilung und personellen Konsequenz verschwunden, schaut keiner mehr genau nach, was denn zu der Verfehlung geführt hat. Maximal fragt einer der Teilnehmer einer spätabendlichen Talkshow, wie so eine unschöne Sache in Zukunft vermieden werden könnte. Die Runde kommt in der Regel schnell auf die immer gleichen zwei Lösungsansätze: Entweder man müsse eben bei der Auswahl der Person mehr auf Integrität achten oder die Aufsicht verbessern und damit verbunden die Strafen verschärfen.
Hinter beiden Ansätzen steht die gleiche Annahme: Schuld war dieser eine Mensch. Also brauchen wir für die Zukunft einen besseren Menschen oder wir müssen ihn besser kontrollieren.
Ich habe da eine ganz andere These.
Die große Verführung
Jeder politische Apparat, jede Organisation, jedes Unternehmen bildet mit seinen/ihren Regeln, Ritualen und Praktiken einen institutionellen Rahmen. Die Mitglieder referenzieren mit ihrem Handeln ständig auf diesen Rahmen. Diesen Rahmen könnte ich auch „das System“ nennen, aber das klingt dann gleich nach Verschwörungstheorie. Damit hat das rein gar nichts zu tun.
Den Begriff des Systems hebe ich mir inzwischen lieber für ein bestimmte Ausprägung dieses institutionellen Rahmens auf: das Hirtensystem, das ich in meinem Buch „Der Führerfluch“ ausführlich beschrieben habe. So ein Hirtensystem lebt von einer Symbiose: Die Schafe willigen ein, Teile ihrer Selbstbestimmung und Verantwortung an die Hirten abzugeben, und die Hirten sehen sich im Gegenzug dazu verpflichtet, für den maximalen Schutz der Herde zu sorgen.
Auffällig ist, dass all die genannten Skandale insbesondere in Institutionen geschehen, die besonders stark vom Hirtenprinzip durchdrungen sind, ja, die eigentlich nur aufgrund des dem Hirtensystem innewohnenden Hierarchiedenkens überhaupt existieren.
Das Hirtensystem verführt ganz offensichtlich einige Menschen – nicht alle! – zu kriminellen Machenschaften. Und diese Verführung können Sie nicht ausmerzen, indem Sie den einen Verführten austauschen. In einem betrugsanfälligen System wird es immer neue Betrüger geben.
Jeder einzelne dieser Fälle würde also statt nur für die juristische Aufarbeitung und einen Rücktritt besser noch zusätzlich für die Frage genutzt: Was war der gute Grund dafür, so zu handeln? Warum hätte ein anderer vermutlich ähnlich gehandelt? Was in den ungeschriebenen Spielregeln dieses institutionellen Rahmens macht ein solches Verhalten wahrscheinlich?
Wohlgemerkt: nicht zwangsläufig, aber wahrscheinlich.
Die Wirtschaft traut sich …
Aus meiner Sicht sind die vereinzelten Mandatsträger und Führungskräfte, die sich verführen lassen, nur ein Symptom neben vielen anderen dafür, dass das Hirtensystem in den meisten Wirtschafts- und Politiksektoren nicht mehr in der Lage ist, die drängenden Probleme zu lösen. Als stabilisierende Praktik kommt es mit dem rasanten Tagesgeschehen nicht mehr zurecht. Es erhält sich vorrangig selbst.
Deshalb ist es dringend Zeit, eine Debatte über diese Praktik anzustoßen. In vielen Wirtschaftsorganisationen passiert das meiner Beobachtung nach erfreulicherweise schon. Sogar in Unternehmen, die stark vom Hirtensystem durchdrungen sind – dort allerdings eher hinter verschlossenen Türen oder unter dem Radar. Denn wer diesen institutionellen Rahmen hinterfragt, begeht einen Tabubruch, und läuft Gefahr, vom Immunapparat der Organisation ausgeschwitzt zu werden.
Auf gesellschaftlicher Ebene aber wird diese Debatte bisher viel schwächer, viel oberflächlicher und, wenn dann doch, naturgemäß viel ideologischer geführt. Den Grund dafür vermute ich im politischen Lagerkampf.
… wo die Gesellschaft noch zaudert
Jeder, der das Tabu zur Sprache bringt, muss befürchten, mit einem ganz bestimmten Lager in Verbindung gebracht zu werden. Denn auch die politischen Lager auf der sehr rechten und sehr linken Seite sprechen gerne von der „Systemfrage“ oder neuerdings dem „Great Reset“.
Was sie damit meinen, sind in der Regel noch viel autoritärere Vorstellungen des institutionellen Rahmens. Davon distanziere ich mich persönlich sehr deutlich. Aber die grundsätzliche Debatte nur deshalb nicht zu führen, weil sie von diesen Kräften scheinbar okkupiert ist, halte ich für falsch und gefährlich.
Und ein bisschen ruht meine Hoffnung hier auf Ihnen.
Der richtige Hebel
Gehen Sie mal durch Ihr Unternehmen mit dem Blick: An welchen Stellen wird nicht bloß über Führungs stil , sondern über das Führungs system gesprochen? Vielleicht geschieht das noch leise, weil Ihre Mitarbeiter nicht wissen, wie Sie dazu stehen. Und tun Sie das Ihrige, um die Debatte um den institutionellen Rahmen, um die Verantwortung für das System bei sich populär zu machen. Das ist der richtige Hebel. Für Ihr Unternehmen, für unsere Gesellschaft.
Denn Deutschland braucht mehr Verantwortung statt noch mehr Rücktrittsschmu.
Lars Vollmer ist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor. In seinem Buch „Der Führerfluch – Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden“ stellt er den Krisen in unserem Land Selbstorganisation und die Idee einer Verantwortungsgesellschaft entgegen.