Teil V
"14:00 Uhr Ortszeit. Pünktlich eröffnete der Handel des DAX-Futures in Frankfurt. Bereits wenige Minuten später hatte Stan die erste Entscheidung für einen Trade in diesem Markt getroffen.
Order Filled. Sell FDAX 2@6750 id=8161168
Die ersten Minuten in seinem Short-Trade liefen richtig gut. Stans Rhythmus schien im selben Takt zu schlagen wie derjenige des Marktes. Stan fühlte sich toll. So ein bisschen wie Rocky, nur halt ohne Musik. Schade, dass er keinen mp3-Player zur Hand hatte.
Neun Minuten später. Die neue Periode seines 10-Minuten-Charts, bei welchem er davon ausging, dass dieser weiter in Richtung 6.700 führte, begann sich ebenfalls rot zu präsentieren. In der zweiten Minute dieser Periode hatte Stan allerdings das Gefühl, dass der Markt für seinen momentanen Rocky-Trainingszustand zu schnell lief.
... 6.745; ... 6.742; ... 6.739; ... 6.734
Wo drosselte man nur das Tempo?
Dennoch: Die Sonnenstrahlen per se hätten vielleicht bereits ausgereicht, aber allein die Tatsache, dass Stan tatsächlich gleich zu Beginn einen riesigen positiven Trade am Laufen hatte, erhöhte seine Laune immens. Bis er direkt hinter sich zwei ihm wohlbekannte Stimmen hörte.
"Hey!", wurde er von Nick und Philip begrüßt. Stan riss seinen Kopf herum. "Hallo, ihr beiden." Philip klopfte ihm im Vorbeigehen von hinten auf die rechte Schulter. »Gleich zur Markteröffnung am Traden? Ist ja klasse." Nachdem Philip seine Sachen an seinem Arbeitsplatz abgelegt hatte, kehrte er zu Stan zurück und schaute auf dessen Bildschirme und die offene Position.
"Warum nimmst du nicht noch mehr Kontrakte? Dein Konto gibt es doch her, oder?" "Okay!"
Was als teils witzige, hauptsächlich aber ironisch gemeinte Fangfrage den Start der morgigen Konversation einleiten sollte, wurde von Stan als Hinweis aufgefasst und so dankbar wie prompt direkt in die Tat umgesetzt. Schneller als Philip zwinkern konnte, sah er die Bestätigung.
Order Filled. Sell FDAX 2@6837 id=8263741
Was sagt man dazu?, dachte Philip. Am besten nichts.
"Hast du Zeit? Setz dich doch!", meinte Stan. Schließlich lag er vorn, und ein – wenn auch kleines – applaudierendes Publikum konnte nicht schaden. Philip dachte kurz nach und gelangte zu dem Entschluss, diesen Trade mit Stan gemeinsam zu verfolgen. "Klar, warum nicht." Philip nahm seine Sonnenbrille ab, holte sich einen Tee und setzte sich verkehrt herum auf einen von Stan herbeigeholten Stuhl. Wie hieß es doch in den reißerischen Reportagen im Fernsehen immer: Es sollte ein ganz normaler Tag werden, doch es wurde die Hölle pur!
Wenige Augenblicke, nachdem Philip dieser voreiligen Einladung gefolgt war und Platz genommen hatte, fühlte Stan sich bereits wie Bruce Willis in "Stirb langsam". Spannung pur! Der DAX-Future rauschte wie ein ICE, mit Stan als vierfachem Short-Passagier an Bord, gen Süden.
Philip rührte geruhsam seinen Tee um und fragte, ohne aufzuschauen und so beiläufig wie möglich: "Sag mal, wo gehst du eigentlich raus?"
Stan blieb eine Antwort schuldig. Unfassbar. Der DAX geht irre ab und Philip denkt ans Aussteigen? Jetzt, wo endlich mal Geld verdient wird?
... 6.724; ... 6.720; ... 6.715; ... 6.712
"Guck doch mal, die ganzen Spinner drehen durch!", keuchte Stan vor Freude, als er den ausgewiesenen Gewinn seiner, durch den Nachkauf im Einstandspreis gemittelten, Position erblickte. Die Situation war für Stan so unfassbar, da er sich gleichzeitig davor fürchtete, dem süßen Traum vom Monstertrade würde, wie gewohnt, ein trauriges Erwachen folgen.
Im Trading-Rausch
.. 6.713; ... 6.715; ... 6.711; ... 6.708
Selbstverständlich tradete Stan nicht so, wie das durchschnittliche Trader tun würden! Vielmehr praktizierte er ein spezielles, von ihm selbst entwickeltes Kamikaze-Trading. "Das Trading ist schon geil!", schwärmte er, als der DAX-Future auf dem 10-Minuten-Chart die 6.700 passierte und sein Gewinn auf stolze 4.350 Euro stieg. Er konnte die anerkennenden bis neidischen Blicke der anderen förmlich schon auf sich spüren.
"Wo ist dein Stopp?", fragte Philip, nun deutlicher werdend. "Stopp?! Ich habe den Finger am Abzug!", grinste Stan und wackelte kurz mit der rechten Hand, wodurch der Mauszeiger auf dem Bildschirm hin und her sauste.
Das wird schwieriger werden als erwartet, dachte Philip, und setzte daher zu einem zweiten Versuch an. "Was denkst du, wie der Markt fällt?", fragte Philip und betrachtete Stan von der Seite. Er registrierte einen begeisterten Trader mit substanzlos flammender Gier. Es war immer wieder der Wahnsinn, welche geheimnisvollen Fähigkeiten ein Chart besaß. Philip fragte Stan nochmals, ob er sich Gedanken über das Wie gemacht hätte.
Nach etlichen Sekunden erwiderte Stan: "Ähm ... wie meinst du das?" Stan war viel zu abgelenkt von dem gerade eben festzustellenden Schrumpfen seines Punktgewinns, als dass er sich Gedanken über die mangelnde Schlagfertigkeit seiner Antwort gemacht hätte. Sein Herz pochte plötzlich so heftig, dass er das Gefühl bekam, es würde ihm gleich bei den Ohren herausquellen.
"Hallo?! Guten Morgen! Trend, Bewegung oder Ausbruch ...?", sagte Philip halb gelangweilt, halb verärgert. Das war doch schließlich alles schon einige Male durchgesprochen worden. Durch Philips Stichworte war Stan jetzt klar, worauf Philip hinaus wollte, und er antwortete beiläufig, das Ziel dieses Trades sei Handel der Bewegung. Trendhandel, so Stan, sei nach dem gestrigen Desaster heute nicht sein Ding.
"Okay." Philip wusste, dass Stans Antwort – so wie früher seine Antworten gegenüber Hofner – nicht wirklich ernsthaft gegeben wurde, sondern nur, um den Fragesteller ruhig zu stellen. Stan stand einfach viel zu sehr im Bann des zappelnden Kursverlaufs. Er zog die Augenbrauen hoch und deutete mit einem leichten Kopfnicken, locker geöffneter Hand und nach oben zeigender Handfläche in die ungefähre Richtung des Charts, was bedeuten sollte, dass er immer noch keinen passenden Stopp im System erkennen konnte.
Mit einem stillen Seufzer platzierte Stan einen Stopp auf die 6.748, das Hoch des letzten abgeschlossenen Bars. Mit einem Lächeln nahm Philip die Differenz von 50 Punkten zwischen dem Stoppkurs und dem aktuellen Marktstand wahr und dachte an die in seinem Tagebuch eingetragenen letzten Anmerkungen zu Stan. Philip nahm sich vor, zu prüfen, ob bei diesem Trade mit Ausrichtung Handel der Bewegung das bei Stan beobachtete fehlende Verständnis für den Verlauf der Zeiteinheiten ebenso zum Tragen kam wie beim vergangenen Handel des Trends.
"Jetzt raus?!", schlug Philip vor, als der Markt innerhalb weniger Sekunden weitere 30 Punkte abrutschte.
"W-A-S ...?" "Der erste Teilverkauf." Philip deutete auf den Gewinn. "Wäre doch nicht schlecht ..." "Häh?" Stan ließ den Bildschirm nicht aus den Augen.
"Teilgewinne realisieren?!" "Ja ... ja, gleich!" Stan war wie hypnotisiert. Der ICE kannte kein Halten und er saß in der richtigen Richtung. Teilgewinne, so ein Quatsch! Die nachfolgenden Worte Philips erreichten Stans Ohren nur undeutlich. Sie wurden von den Geräuschen des ICE übertönt."