Es sind Bilder, wie wir sie aus dem Pleitestaat Griechenland gewohnt waren: Polizisten in Kampfanzügen drängen mit Wasserwerfern, Tränengasgewehren und Schlagstöcken Demonstranten zurück. Doch der brennende Schauplatz der Anti-Regierungsproteste ist Istanbul, die Geschäftsmetropole des Wirtschaftswunderlandes Türkei. Und nicht die Opfer einer schmerzlichen Austeritätspolitik gehen hier auf die Barrikaden. Es ist ein Aufstand gegen staatliche Autorität und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.
Noch als der Premier vergangene Woche den Spatenstich für die dritte Bosporus-Brücke zelebrierte, verlief das Sit-in auf dem zentralen Taksim-Platz nur Kilometer entfernt ganz friedlich. Dem 3-Mrd.-Dollar-Projekt der Hängebrücke, die einen Flughafenneubau für 100 Millionen Passagiere anbinden wird, müssen Tausende Bäume weichen. Auf dem Taksim ist „nur“ ein kleiner Platanenhain bedroht. Doch er steht nun als Sinnbild für die Brachialgewalt des Staates: beim brutalen Polizeieinsatz mit hunderten Verletzten und bei der Rücksichtslosigkeit, mit der die Regierung Erdogan Megaprojekte über die Köpfe der Bürger hinweg plant.
Die letzte Grünfläche nahe der pulsierenden Flaniermeile der Stadt soll dem Nachbau einer ottomanischen Kaserne mit Einkaufszentrum zum Opfer fallen. Viel zu viele dieser Konsumtempel sind in Istanbul, wie in vielen anderen Städten der Türkei, schon in den Himmel gewachsen. Das ist nun ausgerechnet den Gewinnern des zehnjährigen Wirtschaftswachstums unter der religiös-konservativen AKP-Partei zu viel. Die türkische Mittelschicht ist es offenkundig leid, gegängelt zu werden – von einem Premier, der sich mehr und mehr geriert, wie ein allmächtiger Sultan, und für den Bürgerrechte leere Worthülsen sind.
Denn der wirtschaftliche Aufschwung der Türkei seit dem Ende der Schuldenkrise 2002 hat dem Land an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien einen beispiellosen Bauboom beschert. Kraftwerke, Schnellstraßen und U-Bahn-Tunnel schlagen Schneisen - und verdrängen angestammte Wohngebiete. Proteste der Umweltschützer und Städteplaner bleiben ungehört. Was bleibt, ist das Geschmäckle, der Staat stelle die Wirtschaftsinteressen der Bauherren über die der Bürger. Es weht ein Hauch von „Stuttgart 21“ – wenngleich die türkische Wut sich stärker an einer Kultur der Korruption in der Bauindustrie entzündet: Parteipolitiker sind mit Holdings verbandelt, die unter Erdogan erst richtig groß wurden. Herren über ein Städtebau-Budget von 400 Mio. Dollar wird der Prozess wegen Amtsmissbrauchs und Bestechung gemacht.
Es sind aber auch Hausfrauen, die mit Töpfen klappern, um Demonstranten zu ermutigen. Es sind Jugendliche, Ladeninhaber, moderne Liberale, die sich übertölpelt fühlen von einem nächtlichen Verkaufsverbot für Alkohol, das übereilt durchs Parlament gepeitscht wurde. Dabei hat das muslimische Land schon den geringsten Alkoholverbrauch Europas. So richtet sich dieser Protest zugleich gegen die Weltanschauung einer islamisch geprägten politischen Führung, die westlichen Lebensstil einengen will. Zwischen rote Flaggen mischen sich Plakate von Mustafa Kemal Atatürk, dem Staatsgründer, der Religion aus dem türkischen Staat verbannte.
Erdogan, der nun im zehnten Jahr erfolgsverwöhnt regiert und auch Präsident des Landes werden will, hat die landesweite Welle der Wutbürger unterschätzt. Ihrem „genug der Allmacht und des allmächtiges Gebarens“ hält er schroff entgegen: „Ich habe nicht das Blut eines Diktators in mir.“ Nur zeigt seine Reaktion leider auch, dass die Regeln der Demokratie dem Partei- und Regierungschef noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen sind.
Die Istanbuler Börse hat kurzfristig empfindlich reagiert. Der Aktienindex fiel zeitweise um bis zu 8,1 Prozent auf ein Drei-Monats-Tief. Anleger trennten sich von türkischen Staatsanleihen und der Währung des Landes. Die Rendite zehnjähriger Bonds stieg auf 7,12 Prozent von 6,84 Prozent am Vortag. Noch vor wenigen Tagen hatte der US-Ökonom Jeffrey Sachs die Türkei für ihre weitsichtigen Reformen gelobt: Der Bankensektor ist reformiert, der Haushalt wurde kontinuierlich saniert, die Wirtschaftsstruktur diversifiziert. Für ausländische Investoren war die Türkei lange ein stabiler Darling. Halten die Proteste an, könnte sich das durchaus ändern.
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