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Kolumne Zweifeln muss erlaubt sein

Ein wichtiger Mechanismus für steigende Kurse ist gestört: Schlechte Nachrichten sind jetzt wirklich schlecht. Von Christian Kirchner
Christian Kirchner
Christian Kirchner
© Gene Glover

Christian Kirchner ist Frankfurt-Korrespondent von Capital. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Geldanlagethemen. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen

Hinter mir liegt ein kleiner Marathon aus Interviews und Hintergrundgesprächen, die ich in den letzten zwei Wochen mit Strategen und Fondsmanagern geführt habe. Und, ich muss zugeben, ein wenig fühle ich mich, als hätte ich kleine, bunte Pillen geschluckt, die die ganze Welt ein bisschen schöner und bunter machen.

Denn dass in der Wirtschaft und an den Kapitalmärkten derzeit einige Dinge alles andere als gut laufen, dürfte kaum jemand bezweifeln: In Schwellenländern reiht sich Enttäuschung an Enttäuschung, Chinas Wachstumsraten sinken, die US-Notenbank verschiebt wegen Sorgen um die Konjunktur außerhalb (!) der USA – ein Novum in der jüngeren Notenbankgeschichte – eine Zinserhöhung. Die Rohstoffpreise kollabieren. Quasi über Nacht zerbröselt mit Volkswagen eine Ikone der deutschen Wirtschaftsgeschichte wegen des katastrophalen Umgangs mit guter Unternehmensführung.

Die Fusions- und Übernahmeaktivitäten erreichen Rekordhöhen, was in der Vergangenheit ein verlässlicher Hinweis darauf war, dass Konjunktur und Kapitalmärkte in den letzten Zügen eines Aufwärtszyklus angekommen sind. Und am europäischen Aktienmarkt, der es mit Blick auf seine Gewinndynamik inzwischen auf mehr Comeback-Versuche gebracht hat als der Brasilianer Ailton als Profi-Fußballer, werden Umsätze und Gewinne im dritten Quartal mit mittleren einstelligen Prozentsätzen schrumpfen, wie der Indexanbieter Stoxx mit Blick auf den Stoxx 600 orakelt.

Wo ist die schlechte Stimmung?

Denn dass Dinge schlechter laufen als erwartet, gehört zum Alltag. Es definiert oft sogar Chancen. Hohe Renditen locken etwa mit Aktien meist dann, wenn Bewertungen hoch sind, weil die Gewinne im Keller sind. Oder wenn Zinsen hoch sind, weil sich Investoren um die Inflation, die Solvenz von Schuldnern oder weitere Zinserhöhungen sorgen. Entscheidend dafür ist aber, dass tatsächlich Sorgen grassieren. Die Panik anderer schafft schließlich Kaufgelegenheiten.

In den letzten zwei Wochen habe ich aber kaum ein Stirnrunzeln vernommen.

Von einer schlechten Stimmung, einer Art Mauer der Angst, an der Kurse auch weiter nach oben klettern können – davon kann ich wenig hören, sehen oder lesen, außer den üblichen Crashpropheten. Immerhin: Marc Faber rechnet mit einem Crash „wie 1987“ - würde er einmal etwas anderes erzählen, wäre das wirklich alarmierend.

Nachrichten kann man umdeuten

Nun kann man jede noch so schlechte Nachricht blitzschnell umdeuten. Und keine Frage: Es ist auch der Job von Strategen und Fondsmanagern, sich selbst gut zu verkaufen und Investoren bei Laune zu halten. Hier dennoch eine Auswahl, wie man Nachrichten beliebig umdeuten kann: Die Rohstoffpreise kollabieren? Das ist doch super, denken Sie mal an die immensen Kaufkraftgewinne der Autofahrer. Und was die Öl importierenden Länder sparen! Die US-Notenbank zögert mit der Zinserhöhung? Das ist doch kein Wunder, schließlich gibt ihr die Inflation nicht den geringsten Anlass dafür. Die Märkte schwanken? Sehen Sie es doch so: Schwankungen eröffnen tolle Kaufgelegenheiten! Die Gewinndynamik am Aktienmarkt ist weg? Dann schauen wir uns einfach alles Ex-Energie an, dann stimmt's wieder!

Das Deflationsgespenst ist zurück? So ein Quatsch, das sind alles Effekte der sinkenden Energiepreise, das wird sich schon bald wieder ändern. Die Fusionen und Übernahmen sind auf Rekordhoch? Freuen Sie sich doch, das ist der Werttreiber für Aktien und der Katalysator für höhere Bewertungen! Bei Volkswagen ist der Teufel los? Sehen Sie: Das ist der Grund, warum man breit diversifizieren sollte bei der Geldanlage, statt Einzelwerte zu halten.

Die Schwellenländer enttäuschen? Bitte nicht über einen Kamm scheren, ja, in Brasilien oder der Türkei gibt es Probleme, aber es gibt noch viele andere Schwellenländer, und der Trend hin zu einer immer kaufkräftigeren Mittelschicht ist ungebrochen.

Keine Sorge: Ich werde mich nun keinesfalls darin versuchen, Ihnen einen Einbruch korrekt vorherzusagen – wenn ich das könnte, würde ich mein Geld als Spekulant verdienen und nicht als Finanzjournalist. Wir bleiben bei Capital weiter Anhänger langfristig rentablen Vermögensaufbaus auch mit schwankungsreichen Anlagen wie etwa Aktien.

Sprengstoff für Anleger

Wenn Sie allerdings eher auf kurze Sicht agieren – also ein bis zwei Jahre – dann sollten sie nun vor allem auf die Reaktion der Kapitalmärkte auf schlechte Wirtschaftsdaten sowie Ankündigungen einer weiter laxen Geldpolitik achten. Denn der Mechanismus funktionierte ja jahrelang so: Schlechte Wirtschaftsdaten sind gut für Aktien und Anleihen, da sie die Wahrscheinlichkeit einer weiter ultralaxen Geldpolitik über Niedrigzinsen oder gar neuen oder mehr Anleihenaufkäufen erhöhen. Das galt natürlich auch für die Ankündigungen (und übrigens nicht den Vollzug) eben jener Notenbankhilfen.

Dieser Mechanismus ist nun aber ganz offensichtlich gestört. Dass die US-Notenbank die Leitzinsen unverändert niedrig ließ, schickte die Börsen zunächst auf Talfahrt. Mario Draghis Ankündigung von Anfang September, die Anleihenaufkäufe womöglich auszuweiten, hatte weder auf den Aktien- noch den Anleihenmarkt einen nennenswerten Einfluss. Das seit über fünf Jahren wunderbar laufende Spiel, sich jede noch so schlechte Nachricht schönreden zu können – weil sie für immer mehr und immer längeres billiges Geld spricht – scheint zumindest einmal hinterfragt zu werden.

Natürlich gibt es auch auf diese – in meinen Augen wichtigste - Veränderung der letzten Wochen eine schlüssige Erklärung von Berufsoptimisten: Schlechte Nachrichten sind plötzlich wirklich schlechte Nachrichten? Das ist toll, denn das zeigt doch, dass wir auf dem Weg in die Normalität sind in Sachen Wirtschaft, Märkte, Kapitalanlagen – schließlich haben Pessimisten fünf Jahre lang gejammert, die Notenbank habe Märkte und Risikowahrnehmungen völlig verzerrt.

Aber so einfach ist dieser neue Prozess des Hinterfragens nicht, also ob schlechte Nachrichten vielleicht am Ende wirklich schlechte Nachrichten sind und nicht ein Signal für noch mehr Notenbankhilfen. Er birgt für Anleger deutlich mehr Sprengstoff als der ein oder andere Konjunkturindikator oder die Inflationserwartungen – denn wächst die Skepsis an dem lange gut funktionierendem Mechanismus, begänne bald auch die Suche nach möglichen großen globalen Kapitalfehlallokationen außerhalb des Öl-und Gassektors oder chinesischen Immobilien.

Und so steckt dann auch in jenem Satz ein Stück Wahrheit, ohne den kaum ein Stratege in diesen Tagen auskommt, weil er fürchterlich nichtssagend ist, aber einen doch zum Experten stilisiert: Dass es gewiss volatil bleiben werde.

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