Capital: Herr Dr. Heise, an den Kapitalmärkten macht sich seit Mitte August immer mehr Sorge über den Zustand der Weltwirtschaft und besonders China breit. Zu Recht?
Heise: Nein, die Lage in China wird meiner Einschätzung nach übertrieben negativ wahrgenommen. Die chinesische Regierung steht fraglos vor einer Herausforderung, den Konsum zu steigern und eine nicht mehr so stark wachsende Produktion zu kompensieren. Und natürlich gibt es eine Schwäche in der Industrie Chinas, die auf den Überkapazitäten basiert, die in den vergangenen Jahren aufgebaut wurden und für die nun die Weltnachfrage fehlt. Bei der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums übersehen indes viele, dass der Dienstleistungssektor in China stark expandiert – und dessen Wachstum und Produktivitätsfortschritte nur Stück für Stück von der offiziellen Statistik erfasst werden. Dazu tragen etwa die großen Internetunternehmen, aber auch die Versicherungswirtschaft bei.
Ganz offenbar irritieren die Nachrichten aus China aber selbst die US-Notenbank, die eine Zinsanhebung mit dem Verweis auf Sorgen um die globale Konjunktur erst einmal verschoben hat. Hat Sie das überrascht?
Mich hat nicht die Entscheidung an sich überrascht, die Zinsen nicht anzuheben, sondern die Tatsache, dass sie annähernd einstimmig im Kreis der US-Notenbanker fiel.
…was die Verunsicherung etwa an den Aktienmärkten noch verstärkt hat.
Ja, weil viele den Schluss ziehen: Wenn schon die US-Notenbank auf eine Zinsanhebung mit dem Verweis auf eine weltwirtschaftliche Schwäche verzichtet, dann muss es ja tatsächlich ein ernstes Problem geben – schließlich kümmert sie sich sonst bei ihrer Geldpolitik kaum um Dinge, die außerhalb der USA passieren. Ich halte das allerdings für einen Fehlschluss und ebenfalls für übertrieben. Sowohl die USA als auch die Weltwirtschaft hätten einen ersten Zinsschritt locker vertragen können. Und jetzt haben wir erneut die Unsicherheit, was geldpolitisch passieren wird, die auf den Märkten lastet. Die Fed hätte also etwas mutiger sein können. Es wird wohl nie eine Situation geben, in der man Leitzinsen risikolos anheben kann.
"Echte Deflationsgefahren sehe ich nicht"
Verharmlosen Sie da nicht die Schwierigkeiten, die eine Zinserhöhung gerade den Schwellenländern bereiten könnte – weil der US-Dollar weiter aufwerten und mehr Investoren ihr Kapital abziehen können?
Nein. Es gibt fraglos Schwellenländer, die vor immensen Herausforderungen stehen. Dazu zählt etwa Brasilien. Das Land ist von großer Bedeutung für Lateinamerika und leidet schon seit längerem unter seiner schwachen Infrastruktur und anziehenden Kosten. Nun kommt noch die Schwäche der Rohstoffpreise dazu. Es ist nicht sichtbar, wie das Land diesen Problemen begegnen will, kurzfristig kann allenfalls ein zyklischer Aufschwung zusammen mit einer Währungsabwertung helfen. Aber andere Trends sind vollkommen intakt: etwa das Wachstum in Asien. Hinzu kommt, dass der starke Rückgang der Rohstoffpreise vielen Volkswirtschaften, die netto Öl und Gas importieren, einen immensen Kaufkraftschub beschert, neben China beispielsweise auch Korea, Taiwan oder Indien.
Ihren Optimismus scheint auch die Europäische Zentralbank nicht ganz zu teilen. Die Sorge vor einer Deflation kehrt zurück – und EZB-Präsident Draghi denkt seit Anfang September laut über eine Ausweitung des Anleihenaufkaufprogramms nach.
Das wäre meiner Einschätzung nach ein Fehler. Der Rückgang der Teuerung ist vor allem dem Verfall der Rohstoffpreise geschuldet. Echte Deflationsgefahren sehe ich nicht. Und was soll eine Ausweitung des Aufkaufprogramms denn bewirken? An Liquidität mangelt es im Finanzsystem der Eurozone nun wirklich nicht. Auf die Realwirtschaft hat das Aufkaufprogramm kaum Einfluss. Da bliebe allenfalls das Ziel, den Euro zu schwächen, um die Wirtschaft zu stützen. Vor einem Abwertungswettlauf ist aber zu warnen. Gerade der Eurozone fehlte dazu die Legimitation, denn sie hat insgesamt einen starken Leistungsbilanzüberschuss, zu dem neben Deutschland Länder wie die Niederlande und Irland, aber in geringerem Maße auch Slowenien, Belgien oder Italien beitragen. Das zeigt, dass die Eurozone mit dem aktuellen Wechselkurs zurechtkommen kann.