Der Preis der Rohölsorte Brent hat zum ersten Mal seit 2014 die Marke von 100 US-Dollar pro Barrel überschritten, nachdem russische Streitkräfte in einer dramatischen Eskalation Städte in der Ukraine angegriffen haben. Dies gibt Anlass zu der Befürchtung, dass der Rohölpreis weiter in die Höhe schießen und die Weltwirtschaft unter Inflationsdruck setzen könnte. Was Analysten über die Russland-Ukraine-Krise und die Auswirkungen auf den Ölpreis sagen, lesen Sie hier.
Eurasia Group: „Die USA und Europa werden in den kommenden Stunden und Tagen höchstwahrscheinlich mit einem weitreichenden Paket von Sanktionen reagieren. Angesichts der Schwere der russischen Maßnahmen erwarten wir, dass westliche Politiker über ihre Worst-Case-Szenario-Pläne hinausgehen werden, was den Ausschluss Russlands aus dem Finanznachrichtensystem Swift ins Spiel bringt. Die Nord Stream 2-Pipeline wird auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt werden. Die Öl- und Gaspreise werden erheblich steigen, was den Inflationsdruck verstärken und die Finanzmärkte sowie das globale Wachstum belasten wird. Während westliche Regierungen wahrscheinlich Energiegeschäfte von den Sanktionen ausnehmen werden, wird die Flut neuer Restriktionen viele Händler dazu zwingen, beim Umgang mit russischen Fässern äußerst vorsichtig zu sein.“
Rapidan Energy Group: „Russlands Angriff auf die Ukraine wird einen Risikozuschlag auf die Rohölpreise aufrechterhalten, bis klarer wird, ob die physischen Lieferungen durch Sanktionen, einseitige Beschränkungen, Verbote oder Kämpfe unterbrochen werden“, sagte Rapidan Energy Group-Chef Bob McNally, ein ehemaliger Beamter des Weißen Hauses. „Wenn es zu keiner größeren Unterbrechung der Versorgung kommt, werden die Rohölpreise wahrscheinlich sinken, da der Angriff Russlands eher ein makroökonomischer Abwärtsfaktor als eine bullische Versorgungsbedrohung ist“, so der Gründer des in Washington ansässigen Beratungsunternehmens.
Crystol Energy: Sollte es zu einer weiteren Eskalation kommen, sei es möglich, dass die Opec ihre Produktion erhöht. „Wenn sie der Meinung sind, dass dies die Stabilität der Ölmärkte bedroht, kann ich mir vorstellen, dass sie mehr Barrel auf den Markt bringen“, so Carole Nakhle, Gründerin des Beratungsunternehmens Crystol Energy. Es würde wahrscheinlich an Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten liegen, das Angebot zu erhöhen, da viele der anderen Mitglieder der Gruppe damit Schwierigkeiten hätten, sagte sie in einem Podcast, der von dem in Dubai ansässigen Berater und Herausgeber Gulf Intelligence produziert wurde.
ING Groep NV: Der Ölmarkt werde nun abwarten, wie die westlichen Länder auf die jüngsten Maßnahmen Russlands reagieren, und das werde wahrscheinlich zu weiteren Preisschwankungen führen, so Warren Patterson, Leiter der Rohstoffstrategie bei ING. „Es wird eine anhaltende Aufwärtsdynamik geben, da der Markt eine größere Risikoprämie einpreisen muss“, sagte er.
Vanda Insights: Putins Schritte könnten die volle Wucht der US- und EU-Sanktionen auslösen und die russischen Energielieferungen nach Europa ins Fadenkreuz nehmen, so Vandana Hari, Gründerin des Ölmarktanalyseanbieters Vanda Insights. Die Erholung des Rohölpreises habe möglicherweise gerade erst begonnen, da die vollen Auswirkungen auf die weltweiten Öl- und Gaslieferungen noch nicht absehbar und berücksichtigt seien. Die Opec+ verfüge über einige freie Kapazitäten, aber ob die Allianz es für klug halte, sie anzuzapfen, und wie schnell sie liefern könne, sei offen, so Hari.
ANZ Banking Group: Erhöhte geopolitische Risiken hätten sich unterschiedlich auf den Ölmarkt ausgewirkt, so die Analysten Daniel Hynes und Soni Kumari von der Australia & New Zealand Banking Group in einer Mitteilung. „Sowohl der Golfkrieg als auch der Irak-Krieg ließen den Ölpreis stark ansteigen, doch gaben die Preise diese Gewinne schnell wieder ab, sobald sich das Risiko verflüchtigt hatte. Die potenzielle Unterbrechung der Versorgung in der aktuellen Situation ist fast auf einem doppelt so hohen Level wie damals. Die Wahrscheinlichkeit, dass gegen russisches Rohöl Sanktionen verhängt werden, halten wir für relativ gering, so dass ein etwaiger Risikozuschlag bei Abklingen des Risikos schnell wieder verschwinden würde.“
JTD Energy Services: Die Russland-Ukraine-Krise habe die Volatilität und Ungewissheit auf eine ganz neue Ebene gehoben, obwohl die Fundamentaldaten des Marktes sehr optimistisch sind, so John Driscoll, Chefstratege bei JTD Energy Services. Während ein Iran-Abkommen wahrscheinlich in die aktuellen Preise einkalkuliert werde, würden die Ölmärkte wahrscheinlich nach oben hin volatil bleiben, sagte er.
Mitarbeit: Dan Murtaugh and Verity Ratcliffe
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