Interview Warum Leerverkaufsverbote kontraproduktiv sind

Marco Pagano ist Ökonomieprofessor an der Universität in Neapel und Präsident des Einaudi Institute for Economics and Finance in Rom
Marco Pagano ist Ökonomieprofessor an der Universität in Neapel und Präsident des Einaudi Institute for Economics and Finance in Rom
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Der Ökonomieprofessor Marco Pagano hat intensiv zur Wirkung von Leerverkaufsverboten geforscht, wie sie jüngst im Fall Wirecard verhängt wurden. Er hält sie für ineffizient und kontraproduktiv

Capital: Herr Professor Pagano, Sie haben sich mit dem Verbot von Leerverkäufen als Instrument der Finanzmarktregulierung beschäftigt. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?

MARCO PAGANO: Es gibt Evidenz dafür, dass Leerverkaufsverbote - also das Verbot, mit geliehenen Aktien auf fallende Aktienkurse zu spekulieren - keine Kursverluste mildern. Sondern, dass sie in der Praxis sogar zu höherer Volatilität und steileren Kursverlusten führen. Die meisten Studien kommen auch zu dem Ergebnis, dass ein Leerverkaufsverbot zu einer niedrigeren Liquidität führt. Das heißt, die Spanne zwischen Ankaufs- und Verkaufspreisen wird größer. Zudem verlangsamt sich die Preisbildung. Das heißt, dass es länger dauert, bis alle vorhandenen Informationen in den Kurs einfließen.

Viele akademische Studien zu den Effekten von Leerverkaufsverboten stammen auf der Zeit der Finanzkrise 2008/2009, als die Kapitalmärkte in einer Jahrhundertkrise steckten. Lassen sich da die Ergebnisse so einfach auf andere Marktphasen extrapolieren?

Die Befunde fußen nicht nur auf Krisenzeiten, sondern auch auf Erfahrungen in Ländern, in denen Leerverkäufe generell verboten sind. Ich habe mich auch mit den Leerverkaufsverboten während der Staatsschuldenkrise von 2011 beschäftigt. Sie kamen zu ähnlichen Ergebnissen wie die Studien, die auf den Daten von 2008 und 2009 basierten. Natürlich ist auch 2011 damit eine „Krisenphase“. Das Problem ist, dass Leerverkaufsverbote generell nur in Krisensituationen neu verhängt werden - entweder in allgemeinen Finanzkrisen, oder aber, weil ein Unternehmen in eine Stresssituation geraten ist. Und dass sich die Beobachtungen zunächst auch kontrafaktisch kontern lassen: Vielleicht wären die mit einem Leerverkaufsverbot belegten Aktien ohne ein Verbot noch steiler gefallen oder hätten noch stärker geschwankt?

Und, wären Sie das?

Ich habe in meiner eigenen Forschungsarbeit versucht abzuschätzen, was die „Regel“ war, wann und bei welchen Aktien ein Leerverkaufsverbot erlassen wurde während der Subprime-Krise vor gut zehn Jahren. Ich habe diese Regel dann für Aktien in der Staatsschuldenkrise 2011 angewandt, für die es kein Leerverkaufsverbot gab, aber nach den 2008er Maßstäben eines gegeben hätte und hatte so eine Art Kontrollgruppe. Die Ergebnisse waren, dass die typischen Folgen von Leerverkaufsverboten für die tatsächlich vom Verbot betroffenen Aktien - höhere Volatilität und stärkere Kursrückgänge - bestätigt wurden.

Wenn die Daten so deutlich sind - sind Sie ihrer Beobachtung nach in die Praxis der Aufseher eingeflossen?

Die US-Aufseher haben ihre Lektion aus den Leerverkaufsverboten der 2008/2009er Krise gelernt. Um den damaligen SEC-Chef Christopher Cox zu zitieren: „Mit unserem heutigen Wissen glaube ich, dass die Aufsicht es nicht noch einmal tun würde. Die Kosten (eines Leerverkaufsverbots von Finanzaktien) übersteigen den Nutzen“. Das waren seine Worte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters Ende 2008. Aber das sehen nicht alle Regulierer weltweit so. Obwohl es Evidenz zu den tatsächlichen Kosten eines Leerverkaufsverbots gab, haben die Aufseher 2011 nicht gezögert, sie erneut zu erlassen. Dabei war die Krise von 2008 eigentlich ein Beleg dafür, dass es keine erfolgreiche Maßnahme war, Kursverluste zu bremsen. Es scheint eine Art Pawlow'scher Reflex bei der Mehrheit der Aufseher zu sein.

Viele Anleger nehmen die Idee eines Leerverkaufs per se als unfair wahr, erst Recht, seit Zweifel an der Theorie der „effizienten Märkte“ größer geworden sind. Ihre Argumentation: der Preis einer Aktie entsteht durch Angebot und Nachfrage. Wieso sind überhaupt Leerverkäufe erlaubt, wenn diese am Ende womöglich eine Negativspirale auslösen können, die gesunde Firmen ins Taumeln bringt?

Die Idee, dass Leerverkäufe „unfair“ seien, ist absurd. Zu verkaufen und auch leer zu verkaufen, wenn man eine negative Meinung zu den Fundamentaldaten eines Unternehmens hat, ist keinen Deut unethischer, als zu kaufen, wenn man einen positiven Blick hat. Man kann es sich auch umgekehrt vorstellen: wenn man es „fair“ findet, die negativen Meinungen von Anlegern mittels Leerverkaufsverboten zu verschleiern, gilt dann das gleiche für den Fall, dass die Aufsicht Kaufverbote verhängt, wenn Investoren optimistisch sind? Oder noch allgemeiner gefragt: ist ein „Bullenmarkt“ mit steigenden Kursen also fairer als ein „Bärenmarkt“, in dem Kurse fallen?

Haben Sie auf Basis Ihrer Forschung einen Ratschlag, wie man mit dem Instrument des Leerverkaufsverbots umgehen sollte?

Ja, meine Empfehlung ist die gleiche wie die in jeder anderen Intervention: Verlassen Sie sich auf die bestehende Evidenz von Kosten und Nutzen, und implementieren Sie diese nur, wenn der Nutzen die Kosten übersteigt. Im Fall von Leerverkaufsverboten gibt es gewichtige Argumente, dass sie unvorteilhaft sind, das heißt: bestenfalls ineffektiv und schlimmstenfalls sogar kontraproduktiv. Das heißt, Aufseher sollten sehr genau und klar ihre Motivation ausdrücken, warum sie ein Verbot erlassen haben, wenn sie es tun. Es sollte kein Pawlow'scher Reflex sein.

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