Heute vor genau 20 Jahren startete das Börsensegment „Neuer Markt“ mit gerade einmal zwei Werten: dem Industriedienstleister Bertrandt und dem Telefonkonzern Mobilcom. Von einem Geburtstag zu sprechen, wäre pietätlos, schließlich hat die Deutsche Börse das Börsensegment bereits im Juni 2003 wieder beerdigt.
Verschwunden ist es damit aber trotzdem nicht. Vergessen erst recht nicht, beinahe jeden Tag klopft und hämmert es im Sarg des Neuen Markts, egal, wie viel Erde auch seit 2003 auf ihn drauf geworfen wurde. Bis heute kommt in Frankfurt kaum eine Diskussion über Börsengänge oder die Aktienkultur ohne Anekdoten aus den trubeligen Jahren kurz vor und nach der Jahrtausendwende aus. Viele hat die Zeit beruflich und persönlich geprägt, viele (auch ich) wollen die Erfahrung nicht einmal missen.
So lustig viele Geschichten von blinder Gier, ahnungslosen Vorstandschefs und irren Kursbewegungen der zeitweise 354 Unternehmen des Neuen Markts aber auch sind, letztlich waren die Jahre des Neuen Markts auch ein Desaster mit Langzeitfolgen bis heute.
Traumatisierte Anleger
Sie waren ein Unglücksfall für Anleger, die ihr Anlageverhalten nicht auf die graue Theorie möglicher Renditen, sondern meist auf ihre eigene praktische Erfahrung stützen. Und die waren seinerzeit für die meisten fürchterlich. Zwischen 1997 (da war die Telekom mit ihren 1,9 Millionen Erstzeichnern längst an der Börse) und 2001 verdoppelte sich die Anzahl der Aktionäre in Deutschland von knapp sechs auf knapp 13 Millionen Deutsche. Den größten Sprung um 3,5 Millionen gab es von 1999 auf 2000, (leider) pünktlich zum Absturz ab Frühjahr 2000. Seitdem ist die Zahl der Aktionäre immer tiefer gesunken. Wird sich daran mittelfristig etwas ändern? Unwahrscheinlich, wenn schon Nullzinsen und seit Jahren starke Kursanstiege keine Verhaltensänderungen herbeiführen.
Jene irren Jahre waren auch eine Katastrophe für Aufseher, denn man hätte die Exzesse als Menetekel für die Dinge, die da noch kommen sollten mit der Finanzkrise sehen können: der Aufstieg und Fall des Neuen Markts war unter dem Strich eine große Umverteilung von Privatvermögen in die Taschen von Banken, Vorstandschefs und Unternehmensinsidern, die rechtzeitig ihre Aktien auf den Markt warfen.
Natürlich wurde niemand zum Mitspielen gezwungen, waren auch Anleger gierig. Doch die Maschine lief lange wie geschmiert. Skrupellose Emissionsbanken wuchteten auch den letzten Schrott an die Börse. Fondsgesellschaften legten einen Themenfonds nach dem anderen auf. Unkritische Medien jubelten mit. Analysten sangen das Lied derer, deren Brot sie aßen. Insider verscherbelten munter Aktien, bevor es schlechte Nachrichten gab. Die juristische Aufarbeitung all dessen umfasst gerade einmal ein halbes Dutzend Fälle mit Bagatellstrafen.
Die irren Jahre waren letztlich auch eine persönliche Katastrophe für viele Anleger, deren Beziehungen und Ehen seinerzeit in die Brüche gingen, weil viele Menschen ihr Leben am Börsengeschehen zwischen Zeichnungen, Daytrading, Börsenlektüre ausrichteten, um dann doch am Ende Haus und Hof zu verspielen.
Sie waren auch eine Katastrophe für viele Fondsgesellschaften und Berater, deren Glaubwürdigkeit bis heute darunter leidet, dass sie ahnungslosen Senioren kurz vor Platzen der Blase noch ein Technologiefonds angedreht haben.
Und sie waren fraglos auch eine Katastrophe für viele Medien, die sich von der Euphorie mitreißen ließen und dadurch an Glaubwürdigkeit einbüßten.
Es war nicht alles schlecht am Neuen Markt
Wir zahlen daher bis heute einen hohen Preis für die Zeit zwischen 1997 und 2003, in die nicht weniger als ein vollständiger Börsenzyklus passte: ein Aufstieg aus dem Nichts mit gerade einmal zwei Werten zum Start vor genau 20 Jahren, zwei Dutzend Börsengängen binnen eines Jahres, dann grenzenloser Euphorie (1600 Prozent Kursplus verzeichnete der Neue-Markt-Index binnen drei Jahren), einem langsamem Abbröckeln und schließlich dem Zusammenbruch mit in der Spitze 95 Prozent Kursminus für den Index.
Doch Schluss mit einer depressiven Aufarbeitung der Vergangenheit. Der Neue Markt ist auch für positive Überraschungen gut. Ich habe mir einmal den Spaß erlaubt, nachzurechnen, wie sich denn ein Engagement der Anleger der ersten Stunde bis heute entwickelt hätte. Wer zur Geburt des Neuen Markts vor genau 20 Jahren 1000 Euro je hälftig in die Aktien der Gründungsmitglieder Bertrandt und Mobilcom gesteckt hätte, würde heute inklusive Dividenden über rund 12.500 Euro verfügen. Hintergrund: Der Wert der Bertrandt-Aktie hat sich mehr als verachtfacht. Die Mobilcom-Aktie, fusioniert und umbenannt in Freenet, bringt es sogar auf eine versechzehnfachung seit 1997.
Schauen Sie also ruhig genau hin, wenn die Deutsche Börse ein Segment gründet. Aber bitte auch, wenn sie eines beerdigt. Wenn Sie sich zum Tod des Neuen Markts 2003 die 50 verbliebenen Werte des Neue-Markt-Auswahlindex Nemax 50 ins Depot und schlafen gelegt hätten, hätten Sie den Dax ebenfalls deutlich geschlagen. Ein Drittel der Firmen mutierte zwar zum Pennystock oder ging schlicht Pleite. Ein halbes Dutzend Werte wie Drillisch, Sartorius, Cenit, Dialog Semiconductor Bechtle und Morphosys haben sich aber seit der Schließung 2003 verzwanzig- bis verachtzigfacht. Das reichte, den Dax um fast 100 Prozent zu schlagen. Es war vielleicht vieles, aber eben auch nicht alles schlecht am Neuen Markt. In diesem Sinne: Alles Gute zum 20. Geburtstag, lieber Untoter!
Christian Kirchner ist Frankfurt-Korrespondent von Capital. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Geldanlagethemen. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen