In der Eurozone und in den USA könnte es momentan kaum unterschiedlicher laufen. Hier: Ein deutlicher Rückgang bei den Corona-Infektionszahlen. Dort: Immer noch mehr als 20.000 Neuinfizierte pro Tag. In Europa: Regierungschefs, die – etwa beim EU-Wiederaufbaufonds – im Großen und Ganzen an einem Strang ziehen. In den Vereinigten Staaten: Ein Präsident, der die Spaltung der Gesellschaft vorantreibt und mit einem großen Teil der Gouverneure über Kreuz liegt. Vergleicht man dann noch die Bilder der Anti-Rassismus-Proteste hüben wie drüben, dann könnte man unweigerlich zu dem Ergebnis gelangen: Europa macht gerade die bessere Figur.
In den kurzfristigen Wirtschaftsaussichten macht sich die Diskrepanz im Krisenmanagement bislang nicht bemerkbar. Im Gegenteil: Ökonomen des Internationale Währungsfonds (IWF) gehen davon aus, dass die US-Wirtschaft im laufenden Jahr nur um 5,9 Prozent schrumpft, die Wirtschaft im Euro-Raum hingegen um 7,5 Prozent. Mittelfristig dürfte die Währungsunion aber nach Einschätzung von Volkswirten den rascheren und kräftigeren Post-Corona-Aufschwung hinlegen. Anleger auf der Suche nach spannenden Einstiegschancen sollten also einen Blick auf europäische Aktien riskieren.
Daniel Hartmann, Chefvolkswirt des Fondsanbieters Bantleon, sieht in der Eurozone aus mehreren Gründen den Grundstein für eine besonders rasche Konjunkturerholung gelegt. So weist er unter anderem auf die mutigen fiskalpolitischen Maßnahmen hin, mit denen die Mitglieder der Währungsunion – sogar das chronisch knausrige Deutschland – auf die Corona-Krise reagieren. Auch die ultralockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die sich im Rahmen ihrer Anleihekäufe kaum noch an irgendwelche Regeln halten muss, bewertet Hartmann positiv. „Alles in allem sticht die Eurozone derzeit positiv hervor“, sagt er – und prophezeit, dass sich diese Entwicklung bald auch an den Finanzmärkten niederschlagen wird: „Die Währungsunion ist auf gutem Weg, vom verstoßenen Kind zum Liebling der Investoren zu avancieren.“
Tatsächlich hat der europäische Aktienindex Eurostoxx 50 zuletzt gegenüber dem US-Börsenbarometer S&P 500 Boden gutgemacht. Auf Sicht von einem Monat legte der Eurostoxx 50 um gut 14 Prozent zu. Der US-Leitindex kletterte im selben Zeitraum nur um etwas mehr als neun Prozent. Darüber hinaus hat der Euro gegenüber dem US-Dollar seit Mitte März um sechs Prozent aufgewertet, berichtet der Bantleon-Ökonom. Auch das deutet seiner Einschätzung nach darauf hin, dass die Eurozone vor einem Finanzmarkt-Comeback steht.
Rein in europäische Aktien
Auf der anderen Seite des Atlantiks stehen die Vereinigten Staaten, die derzeit keinen sonderlich vereinten Eindruck machen, vor einem wachsenden Schuldenberg, ohne dass die Realwirtschaft ernsthafte Anzeichen machen würde, wieder auf die Beine zu kommen. „Die Schulden der USA steigen so stark, dass sie das gesamte Land zu ersticken drohen“, sagt Ivan Mlinarc, Geschäftsführer der Investmentboutique Quant Capital Management. Er weist darauf hin, dass das Land bereits vor der Coronakrise sehr hoch verschuldet war. Anders als die meisten Staaten der Eurozone habe Washington die vergangenen, fetten Jahre nicht dazu genutzt, Schulden abzubauen. Das könnte nun zum Problem werden: „Eine Staatsschuldenquote von mehr als 125 Prozent erscheint noch in diesem Jahr möglich und würde den wirtschaftlichen Gestaltungsspielraum der Politik in Zukunft deutlich einschränken“, warnt Mlinaric. Angesichts munter steigender Aktienkurse an der Wall Street befürchtet er, dass sich die US-Börsen von der Realwirtschaft entkoppeln.
Für Anleger heißt das: Finger weg von US-Aktien – und rein in europäische Titel. Zumindest als mittelfristiges, taktisches Investment, mit dem man von der Erholung nach der Coronakrise profitieren kann, bieten sich europäische Aktien jetzt an. Auf lange Sicht kommt allerdings kein Investor um eine große Portion USA im Portfolio herum. „Technologisch ist Europa in vielen Bereichen abgehängt“, sagt Bantleon-Ökonom Hartmann. Auch strukturelle Wirtschaftsschwächen in einzelnen Ländern wie Italien blieben bestehen. Sie würden momentan lediglich mit viel Geld überdeckt.
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