Es geht im Leben oft darum, ob man das Glas nun als halbvoll betrachtet oder als halbleer. Und offenbar kann man auch an der Börse trefflich darüber streiten. In den vergangenen Wochen haben es jedenfalls sehr viele Analysten und Großinvestoren getan, wenn es um den rasanten Kursanstieg seit April ging. Nachdem der Markt im März crashte, hatten sich die Kurse großflächig schon wieder erholt, beinahe bis aufs Jahresanfangsniveau. Aber ist das Glas damit nun wieder halbvoll, weil es bedeutet, dass der große Wirtschaftseinbruch damit schon weitgehend überstanden ist – zumindest an den Börsen? Oder ist das Glas eher halbleer, weil diese Erholung ungesund war und Aktien damit schwer überbewertet sind? Erst recht, wenn man sich ansieht, welche Wirtschaftsdaten in Zukunft zu erwarten sein werden? Steht dem Markt also demnächst noch ein neuer Einbruch bevor, also die zweite Kursabschwungwelle? Genau das ist die kritische Frage zurzeit. Und prompt stürzt der Markt seit anderthalb Wochen wieder etwas ab. Der Dax gab von 13.300 Punkten ziemlich exakt 1000 Prunkte nach und landete bei 12.300. Das war ein Verlust von rund 7,5 Prozent.
Die noch spannendere Frage aber ist: Anhand welcher Indikatoren soll man beantworten, ob Aktien derzeit fair bewertet sind? Hierzu gibt es diese Woche zwei neue Deutungsansätze, die beide recht aufschlussreich sind und die beide auf eine altbekannte Kennzahl abzielen: aufs Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV). Dieser Faktor wird ja gemeinhin zu Rate gezogen, wenn man ermitteln will, ob Aktien überbewertet sind. Denn er besagt: Wie hoch ist der Kurs einer Aktie zurzeit im Verhältnis zu den Gewinnen, die das Unternehmen erwartet. Diese Gewinne werden sich ja später auch in Form von Dividenden oder weiter steigenden Kursen für den Anleger monetarisieren. Und allgemein gilt ein sehr hohes KGV als Warnzeichen dafür, dass ein Papier deutlich überbewertet ist.
Natürlich muss man dabei die Einschränkung machen, dass das KGV niemals die einzige Kennzahl sein sollte, die Anleger betrachten. Da der Aussagewert des KGV immer begrenzt ist, was schon einmal daran liegt, dass es für die Folgejahre immer auch auf Gewinnprognosen basiert. Von denen aber weiß niemand, ob sie so später tatsächlich eintreten. Vor allem in Corona-Zeiten weiß das nicht einmal die betreffende Firma selbst, die sie erstellt. Vor allem bei aufstrebenden Wachstumstiteln, deren Kurse die Angewohnheit haben, schneller zu steigen, sendet das KGV oftmals Warnsignale, die nicht selten unbegründet sind. Oft wächst hier eben eine Firma stark, was sich in ihrem Kurs wiederspiegelt. Und die Anleger glauben daran, dass sich das starke Wachstum später auch in Gewinnen niederschlagen wird und setzen deshalb auf die Aktie, obwohl sie bereits teuer ist. Wenn sie später wirklich große Gewinne erzielt, war sie ihr Geld dennoch wert. An den anhaltenden Erfolg von Amazon zum Beispiel glaubten auch viele Investoren nicht, selbst Altmeister wie Warren Buffet müssen im Nachhinein zugeben, dass sie das Unternehmen unterschätzt haben. Und sich oft ärgerten, nicht dennoch eingestiegen zu sein.
Blick auf das Shiller-KGV
Weil aber die Schwächen des KGV ebenfalls bekannt sind, gibt es auch längst eine Modifikation des KGV, das sogenannte Shiller-KGV, das vom Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller stammt. Es betrachtet kurz gesagt nicht den aktuellen oder jüngsten Gewinn eines Unternehmens, sondern den langfristigen Durchschnittsgewinn über zehn Jahre. Das ist schon ein erheblich besserer Anhaltspunkt, denn das glättet die Spitzen nach oben und unten, die gerade in ausgeprägten Boom- oder Krisenzeiten sonst das KGV verzerren. Gerade in Krisenzeiten wie jetzt, bricht nämlich das Gewinnwachstum vieler Firmen erst einmal kräftig ein. Wenn sich dann die Kurse dagegenstemmen, weil sie bereits wieder mit steigenden Gewinnen nach der Krise rechnen, wirken erst einmal viele Aktien überteuert, wenn man eben nicht den durchschnittlichen Langfristgewinn bei der Berechnung ansetzt. Genau das macht das Shiller-KGV.
Nun wird auch dieser Kennzahl nachgesagt, dass sie nicht immer eindeutige Signale über die künftigen Börsenkurse liefert. Also nicht wirklich als Indikator taugt. Aber es gibt neuerdings erstaunliche Erkenntnisse, was man aus dem Shiller-KGV dennoch wohl herauslesen kann.
Grundsätzlich ist es so: Sieht man nur die aktuellen Gewinne und die erwarteten Gewinne für 2020 und setzt man sie in Bezug zu den aktuellen Kursen, dann scheinen viele Aktien tatsächlich sehr teuer. Durch die Relativierung der Zehnjahres-Shiller-Gewinne jedoch, rutscht wieder etliches ins Verhältnis. Denn tatsächlich zeigt die langfristige Shiller-KGV-Kurve dann nur zwei wirklich große Ausreißer: Die Jahre 1929 und das Jahr 2000. Die aktuellen KGV-Werte dagegen schwimmen hier eher unauffällig im Mittelfeld mit.
Aktuell sieht es zum Beispiel hierzulande so aus: Der deutsche Leitindex Dax kommt über seine 30 Mitgliedsunternehmen zurzeit auf ein KGV von 20,4. Ermittelt man das Zehnjahres-Shiller-KGV, so liegt es bei 18,3. Beides scheint nicht überwältigend über das Normalmaß hinauszuschießen, schließlich liegt der langjährige Durchschnitt des KGV hierzulande bei rund 15. Wobei man allerdings sagen muss, dass das KGV in den vergangenen Jahren etwas stärker gestiegen ist als zuvor, daher liegt der 30-Jahres-Schnitt eher bei 19. Dennoch: Da scheinen die aktuellen Bewertungen eher im langfristigen Mittelmaß zu liegen, als bereits nach oben herauszustechen. Zumindest für die deutschen Aktien ist das so. In Amerika sieht das ein wenig anders aus, dort bewegt sich das KGV für den S&P 500 Index inzwischen bei etwa 30. Kein Wunder, denn die amerikanischen Aktien waren ja auch 2019 sowie in der Erholung in diesem Jahr als jene bekannt, die am stärksten allen anderen Märkten davonzogen.
Wie aussagekräftig sind nun diese Zahlen? Bedeuten sie für amerikanische Aktien also ein Warnsignal? Derzeit gibt es ja einige Analysten, die sagen, die US-Wirtschaft werde künftig nicht so stark weiterwachsen wie bisher. Vielmehr werde sie sogar noch deutlich schwächeln, weil sie sehr schlecht und schleppend aus der Coronakrise komme. Gemessen daran seien die Aktienkurse also derzeit zu hoch. Die Analysten der Ratingagentur Morningstar kommen nach Auswertung der Shiller-KGVs zu einer ähnlichen Deutung, sie sagen: Über die letzten Jahrzehnte habe die reine Betrachtung des Shiller-KGVs tatsächlich einige Fehlsignale produziert und Überbewertungen im Vorfeld nicht zuverlässig angezeigt. Aber sie haben auch herausgefunden: Seit 1995 wirkt das Zehnjahres-KGV doch recht zuverlässig als Indikator.
Durchschnittlich maue Renditen
Nimmt man also nur die Daten ab 1995 und sieht sich an, wie hoch das Shiller-KGV war und wie sich die Aktienkurse danach verhielten, dann ergibt sich ein eindeutiges Grafikbild, das darauf schließen lässt, dass es einen Zusammenhang gibt. Eine Art Gesetzmäßigkeit. Und die sieht so aus: Immer wenn das KGV extrem hoch war, bei rund 40 also, dann waren die Renditen im darauffolgenden Jahr winzig. Sie lagen bei Null oder sogar unter Null für die Anleger. Am besten liefen die Aktienmärkte seit 1995 gesehen, wenn das KGV zwischen 15 und 20 lag, dann waren über 10 Prozent Rendite im Folgejahr drin. Und wenn das Shiller-KGV bei 30 bis 35 lag – so wie jetzt in den USA – dann blieben die Renditen mit vier bis sieben Prozent eher etwas mau. Oder zumindest durchschnittlich.
Insgesamt ließe sich daraus ableiten: Ja, Aktien sind auf kurze Sicht gesehen sehr teuer, auf längere Sicht gesehen aber liegen Anleger damit immer noch goldrichtig.
Diese Einschätzung bestärkt jetzt auch mit Nachdruck Fondsmanager Klaus Kaldemorgen, der langjährige Frontmann der DWS, der sogar für die amerikanische Aktien noch recht optimistisch ist. Er macht nämlich zunächst eine ganz andere KGV-Rechnung auf – und die gilt den Anleihen: Amerikanische Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit rentieren aktuell bei 0,6 Prozent. Das ergebe ein KGV von 165, das ist enorm. Im Januar, als die Rendite noch bei 2 Prozent lag, da ergab sich nur ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 50. So gesehen müsste man also viel eher warnen: Amerikanische Anleihen sind zu teuer! Die KGV-Bewertung des MSCI World dagegen liege aktuell bei 22, im Januar bei 22. Das nehme sich im Vergleich sehr moderat aus.
Substanzaktien zu niedrig bewertet
Einen entscheidenden Punkt, an dem Amerikas Aktienmarkt hängt, nennt Kaldemorgen aber auch: Im Grunde sind nur die Techaktien das „Problem“, das zu den hohen Bewertungen der dortigen Indizes führt. Und sie heben auch die Bewertung des MSCI World insgesamt. Denn im MSCI All Countries World stecken zwar 3000 unterschiedliche Unternehmen, doch allein die „Big 5“ – also Apple, Amazon, Alphabet, Microsoft und Facebook – machen derzeit rund 11,3 Prozent seiner Marktkapitalisierung aus. Bei einem Anteil von 0,16 Prozent auf Unternehmensebene sind sie damit 70fach übergewichtet. Auf die vergangenen fünf Jahre gesehen trugen allein die großen Fünf rund die Hälfte zur Wertentwicklung des MSCI AC World bei. Wenn das keine Verzerrung ist...
Nun kommt Fondsmanager Kaldemorgen aber gerade nicht zu dem Schluss, US-Techaktien seien daher überteuert, sondern im Gegenteil: Er findet, die Substanzaktien seien dagegen zu niedrig bewertet. Stellt man den direkten Vergleich an, dann fällt zum Beispiel eine andere Marktgröße – nach Kapitalisierung und Börsenwert – gegen sie jäh ab, der Konsumartikelkonzern Johnson & Johnson etwa. Während Apple und Microsoft seit Januar um knapp 30 Prozent zulegten, Amazon sogar um 65 Prozent, kam Johnson & Johnson kaum vom Fleck. Auf Einjahressicht gewann Apple 84 Prozent, Amazon 60 Prozent, Microsoft 45 Prozent – und Johnson & Johnson kam gerade mal auf 4,7 Prozent. Bei anderen Konsum- und Lebensmittelmultis wie Nestlé und Unilever sieht es genauso aus: plus 4,5 und minus 3,8 Prozent verzeichneten sie auf ein Jahr. Die Fünfjahresperformance von ihnen liegt nicht bei rund 30 Prozent pro Jahr – wie bei den Techaktien, sondern gerade einmal bei fünf bis zehn Prozent.
Diese Zahlen geben Profiinvestoren derzeit zu bedenken, wenn sich Anleger fragen, welche Aktien sich wirklich lohnen. Natürlich können sie breit auf den Welt- oder US-Markt setzen – und sich weiter fragen: Hab ich zu teuer eingekauft? Es wäre aber doch auch eine gute Option, sich gezielt jene Substanzwerte ins Depot zu packen, die derzeit wirklich unterbewertet sind. Und einfach abzuwarten, bis sich die Wogen der Rezession und der KGV-Ausschläge wieder glätten.
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