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Kolumne Die unheimliche Resistenz der Börsen

Die Widerstandskraft der Börsen gegen schlechte Nachrichten nimmt beängstigende Züge an. Wie lange geht das gut? Von Christian Kirchner
Christian Kirchner
Christian Kirchner
© Gene Glover

Christian Kirchner ist Frankfurt-Korrespondent von Capital. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Geldanlagethemen. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Aktienmärkte derzeit ein merkwürdiges Eigenleben führen, so wurde er spätestens vergangene Woche erbracht: Nicht nur viele Menschen, auch die Akteure am Kapitalmarkt reagierten mit Trotz auf die Anschläge von Paris. Für den Dax und selbst den französischen Index CAC 40 ging es auf Wochensicht kräftig aufwärts. Und selbst der Ausnahmezustand in Brüssel ließ belgische Aktien zum Wochenstart unbeeindruckt.

Nun kann man endlos streiten, welche wirtschaftlichen und geopolitischen Folgen Terroranschläge tatsächlich haben. Fest steht aber, dass die Marktreaktionen der vergangenen Tage so manchen Pessimisten, der auf fallende Kurse gewettet hat, zur Weißglut treiben dürfte.

Denn – und darüber wird es schon schwieriger zu streiten – es ist vor allem ein Argument, das die Aktienmärkte derzeit stützt: Ihre relative Bewertung zum Anleihenmarkt. Und damit verbunden die Perspektive, dass es gewiss so bald ja nicht zu drastisch höheren Zinsen kommen wird. Denn wenn Bundesanleihen mit zehn Jahren Laufzeit nur 0,5 Prozent Rendite einbringen, der Dax aber eine fünfmal so hohe Dividendenrendite, warum dann nicht Aktien kaufen?

Langfristig sind Aktien eine überlegene Anlageform

Die optimistische Lesart der Entwicklung der letzten Tage ist, dass die Widerstandsfähigkeit der Aktienmärkte derzeit enorm hoch ist, was für weiter steigende Kurse spricht. In einer solchen Lage will man besser nicht als Bär kurzfristig auf fallende Kurse wetten. Aber eben kurzfristig auch nicht auf steigende. Denn die pessimistische Lesart ist, dass wir uns in den letzten Zügen des nunmehr mir kurzen Unterbrechung seit fast sieben Jahren laufenden Bullenmarkts befinden.

Keine Missverständnisse: Langfristig sind Aktien eine überlegene Anlageform, der wir bei Capital weiter konstruktiv gegenüberstehen. Aber auf kurze Sicht mahnen gleich eine Reihe Warnsignale zur Vorsicht mit taktischen Engagements.

Die Gewinndynamik:

In den letzten vier Jahren sind die Firmengewinne in den 23 größten Industrie- und Schwellenländern der Welt (gemessen am Index MSCI All World) nicht gestiegen. Fallende Gewinne etwa in Schwellenländern oder Branchen wie der Rohstoff- und Öl- und Gasbranche und steigende etwa in Industrieländern oder bei Konsumgüter-, Technologie- und Industriekonzernen haben sich wechselseitig aufgehoben. Dass für Aktionäre dennoch ein Zugewinn von rund 50 Prozent über diesen Zeitraum heraussprang, ist alleine Dividenden und der Tatsache zu verdanken, dass Aktien immer höhere Bewertungen zugebilligt werden.

Die Bewertung:

Es gibt mit Ausnahmen von Nischenmärkten wie Südeuropa oder Russland keinen Aktienmarkt, der gemessen an seiner Bewertung im historischen Schnitt ausgesprochen günstig bewertet wäre. Das gilt sogar für Aktienmärkte, in denen es schlechte Nachrichten hagelt wie etwa Brasilien: Dort schrumpft die Wirtschaft in atemberaubenden Tempo (minus sechs Prozent zum Vorjahr) drei Quartale in Folge ohne Aussicht auf eine Trendwende. Und Inflation (auf 13-Jahres-Hoch), Schulden und Arbeitslosigkeit klettern. Dennoch sind brasilianische Aktien gemessen am MSCI Brasilien mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 15 und einer Dividendenrendite von vier Prozent alles andere als günstig.

Die Gewinne:

Die US-Konzerne befinden sich in einer Gewinnrezession, in der die Unternehmensgewinne nunmehr zwei Quartale in Folge gefallen sind. Europa ist auf dem besten Weg dorthin. Die Unternehmensgewinne sind schon im dritten Quartal um rund sechs Prozent gefallen und Analysten rechnen für das vierte ebenfalls mit einem Rückgang (bei zugleich schrumpfenden Umsätzen). Und das ist nicht nur eine Folge des Ölpreiseinbruchs: Auch die Branchen der nichtzyklischen Konsumgüter und die Versorger werden für das Gesamtjahr in Europa nach Schätzungen des Indexanbieters Stoxx schrumpfende Gewinne ausweisen, die Gesundheitsbranche wird vermutlich nur eine schwarze Null schaffen. Zugleich mahnt ein erlahmender Welthandel davor, dass die Globalisierung als Treiber von Gewinnen und Produktivität allmählich ausgedient hat – und der Beginn von Dividendenkürzungen vor allem in Europa, dass Ausschüttungen keineswegs sicher sind.

Die Marktbreite:

Dass etwa der weltgrößte Aktienmarkt in den USA seit Jahresbeginn überhaupt ein kleines Plus ausweisen kann, verdanken die Indizes vor allem einem halben Dutzend Werten wie Amazon, Google, Microsoft und Co. Hochkapitalisierte Wachstumswerte tragen die volle Last des Anstiegs.

Die Rahmenbedingungen:

Von Inflation ist in Industrieländern kaum etwas zu sehen, der Ölpreis ist regelrecht kollabiert, der Markt für Fusionen und Akquisitionen ist in Schwung, die Gewinnmargen sind sehr hoch. Alleine die US-Notenbank steht kurz vor einem Ende ihrer extrem laxen Geldpolitik, während die übrigen großen Notenbanken in China, Japan, in der Eurozone weiter auf dem Gaspedal bleiben und die britische Notenbank zaudert und zögert. Viel besser können Rahmenbedingungen für Unternehmen kaum aussehen. Aber sehr wohl schlechter.

Die Niedrigzinsen:

Niedrige Zinsen sprechen eigentlich für Aktien. Aber sie lassen auch die Budgets vieler institutioneller Anleger schrumpfen, die diese in riskante Anlagen stecken können. Denn umgekehrt können Zinsanlagen kaum noch aufholen, was man am Aktienmarkt möglicherweise verliert. Die Folge, die schon im Spätsommer zu beobachten war: Großinvestoren werfen lieber einmal zu schnell als einmal zu langsam Aktien aus den Depots, um Gewinne zu sichern oder Verluste zu verhindern. Das wirkt in Krisen selbstverstärkend.

Nun ist dies alles kein Grund, seine Aktien zu verkaufen. Sehr wohl aber, ein gewisses Maß an Skepsis der Empfehlung gegenüber aufzubringen, Aktien seien derzeit mit Blick auf 2016 alternativlos als Geldanlage, sei es direkt oder über Mischfonds. Wenigstens fünf Jahre Geduld sollte schon mitbringen, wer sich nun in der Spätphase der Rally erst entscheidet, seine freien Mittel auch in Aktien anzulegen.

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