Finanzmärkte Die Aktienmärkte im Auge des Taifuns

Die Kurse an der Wall Street sind nicht weiter bergauf geklettert
Die Kurse an der Wall Street sind nicht weiter bergauf geklettert
© IMAGO / ZUMA Wire
Inzwischen mehren sich die Stimmen, dass der jetzige Kursaufschwung nicht nachhaltig ist. Es ist nur eine Bärenrally. Denn viele Risiken unterschätzen die Anleger noch. Sie kommen vor allem aus Amerika

Wenn gleich drei große Stimmen ausdrücklich vor zu viel Euphorie an den Börsen warnen, darf man schon nachdenklich werden. Noch viel nachdenklicher aber stimmt eigentlich, dass US-Präsident Donald Trump öffentlich den amerikanischen Notenbankchef Jerome Powell für seine Arbeit gelobt hat, obwohl Powell eine dieser drei skeptischen Stimmen war. Der Fed-Chef warnte am Mittwoch eindringlich vor der „erheblichen Unsicherheit“, die noch in den Aktienmärkten stecke und vor großen „Abwärtsrisiken“ in nächster Zeit. Beides versetzte den US-Aktienindizes diese Woche einen empfindlichen Dämpfer, und die übrigen Weltbörsen zogen rasch nach. Und dennoch lobt ihn nun ausgerechnet jener US-Präsident, der ihn zuvor häufiger kritisierte und ihm sogar indirekt mit Absetzung gedroht hatte? Was ist da los?

Und wer waren überhaupt die beiden anderen Warner? Das waren der oberste Aktienstratege der Investmentbank von Goldman Sachs, David Kostin, und die Investmentlegende Warren Buffet höchstpersönlich. Letzterer ermutigte zwar bei seiner virtuellen Ansprache ans Investmentvolk ausdrücklich, weiter langfristig amerikanische Aktien zu kaufen, weil das immer noch die beste Form des Vermögensaufbaus sei. Doch er ging auch deutlich auf die derzeitigen Unsicherheiten ein und sagte, niemand wisse, ob die Märkte in den kommenden Monaten nicht große Erschütterungen erleben würden. Dieses Risiko jedenfalls müsse jeder Anleger aushalten, der jetzt einsteige.

Nun kann man das als den üblichen Risikohinweis vor den volatilen Märkten verstehen. Es gibt aber auch ein untrügliches Zeichen dafür, dass Buffet offenbar wirklich noch Schlimmeres erwartet: Das Unternehmen des Milliardärs und Value-Investors hält zurzeit 137 Mrd. Dollar an Cash in der Hinterhand . Und Buffet hat im März-Crash nicht investiert. Nun könnte man sagen: Da ging alles viel zu schnell, vielleicht hat er die Chance verpasst?

Man darf dem Schlitzohr Buffet aber schon zutrauen, dass er zwischen dem 23. März und dem 3. April Zeit für einen Kauf gefunden hätte, wenn er vom Einstieg überzeugt gewesen wäre. In der Finanzkrise langte er schließlich auch satt zu – und das ausgerechnet bei den amerikanischen Banken. Warum also hätte Buffett jetzt nicht zugreifen sollen, wo er etliche Aktien 35 bis 40 Prozent unter ihrem Preis bekam? Es gibt nur einen vernünftigen Grund: Er wartet, bis sie noch billiger werden.

Die Aktienmärkte kommen nicht mehr voran

Der Goldman Sachs Chefstratege Kostin bezifferte sogar den möglichen neuen Absturz: Er rechnet mit einem Minus von knapp 20 Prozent innerhalb der nächsten drei Monate. Denn er hält den derzeitigen Aufschwung für nicht nachhaltig. Das hieße, dass der amerikanische Leitindex S&P 500, der zurzeit bei rund 2770 Punkten notiert, noch einmal auf rund 2200 Punkte fallen könnte. Also so tief wie im März. Und da sich die Märkte an die allermeisten Analystenschätzungen für gewöhnlich nicht exakt halten, könnte man sogar erwarten, dass noch ein ganz neuer Tiefpunkt ausgelotet wird, wenn es erst einmal kracht.

Die Reaktion auf die geballte Ladung Skepsis ließ sich schon kurze Zeit später in den Kursen weltweit ablesen: Der Dax beendete die Börsenwoche bei rund 10.200 Punkten und damit ungefähr auf dem Niveau, das er auch Anfang April innehatte. Er hat damit also die Zwischengewinne des vergangenen Monats wieder abgegeben. Der Eurostoxx steht mit rund 2700 Punkten jetzt sogar etwas unter der Aprilmarke, rund 100 Punkte tiefer nämlich. Und auch der S&P 500 kam in Summe auf Monatssicht nicht vom Fleck.


S&P 500 Index


S&P 500 Index Chart

Nun haben sich alle Indizes zwar von ihrem Großabsturz im März wieder gut erholt. Aber der weitere Aufschwung stockt. Und es mehren sich tatsächlich die Anzeichen dafür, dass die vergangene Erholung wohl nur eine Bärenmarktrally war. Also eine Aufholjagd im Abwärtsmarkt. Manche Analysten sagen auch dieser Tage sehr treffend: Der Markt befinde sich gerade im Auge des Taifuns. Deshalb scheine die Lage derzeit eher ruhig.

Amerikanische Risikofaktoren

Dass es nicht lange so bleiben wird, halten offenbar viele für ausgemacht. Die wegbrechenden Gewinne in den nächsten beiden Quartalen nennen sie als Begründung dafür. Zurzeit gehen die Schätzungen davon aus, dass die Nettogewinne der Dax-Unternehmen um 40 Prozent einbrechen werden, im Eurostoxx um rund 30 Prozent. In den USA sei noch nicht abzusehen, wie schlimm der Wirtschaftseinbruch werde, sagt Kostin. Denn es gebe einige Risikofaktoren, die Investoren dort noch übersähen.

Die Pandemiewelle stehe dort erst am Anfang, bisher habe sie vornehmlich in New York gewütet, doch im Rest des Landes werde sich das Virus erst noch verbreiten. Zudem werde es lange dauern, bis sich der Jobmarkt wieder erhole. Schon jetzt verzeichnen die USA rund 36 Millionen Arbeitslose und eine Arbeitslosenquote von über 15 Prozent. Solche Zahlen habe das Land seit der Wirtschaftskrise der 30er-Jahre nicht mehr erlebt. Dazu komme, dass die Risikorückstellungen für Kreditausfälle noch nicht hoch genug seien, da müssten Banken und Firmen nachjustieren. Das koste die Wirtschaft demnächst noch viel Geld. Zudem würden viele Unternehmen auch noch ihre Aktienrückkäufe in diesem Jahr aussetzen – und gerade die hatten den Markt in der vergangenen Dekade extrem gestützt. Vom Gedanken an diesen Zusatzimpuls können sich die Aktienmärkte also verabschieden.

Damit noch nicht genug, denn auch die Präsidentschaftswahl im Herbst und eine mögliche Neuordnung der Steuergesetze brächte eine weitere Unsicherheit für die Wirtschaft mit sich. Noch weiß niemand, in welche Richtung es danach geht. Und nun flammt auch noch der Handelskrieg zwischen Amerika und China wieder auf . Oder besser gesagt: Der US-Präsident entfacht ihn neu. Er droht den Chinesen bereits wieder vernehmlich.

Das trägt nun auch nicht gerade zur Genesung der Welt vom Pandemiecrash bei. Vor allem wird es dem globalen Handel eine Rückkehr aufs alte Niveau erschweren. Wobei viele Ökonomen ohnehin davon ausgehen, dass dieses alte Niveau in Zukunft vermutlich sowieso nicht mehr erreicht wird. Sie denken eher, dass der Welthandel schwächer wird, weil es eine Deglobalisierungs- und Relokalisierungswelle geben wird. Daher werden künftig wohl wieder weniger Waren rund um den Globus verschifft.

Angst vor einer zweiten Corona-Welle

Zu all diesen Risiken kommt noch die Gefahr, dass es eine mögliche zweite Ausbruchswelle des Virus geben könnte. Aktuell ist in China – das uns rund zwei Monate voraus ist – die Nachfrage noch längst nicht aufs ursprüngliche Niveau zurückgekehrt, der Konsum ist dort in vielen Sektoren noch gut 15 Prozent schwächer als zuvor. Bei der Gastronomie und im Tourismus liegt er noch völlig darnieder. Und in Eruopa beginnen die Produktionsindizes gerade erst zu sinken.

Doch was macht die Skeptiker nun so sicher, dass der Markt das alles nicht dennoch schon mit eingepreist hat? Vielleicht schätzt er ja viele dieser Risiken als gar nicht so dramatisch ein. Könnte es nicht also trotzdem sein, dass der jüngste Aufschwung selbst die düsteren Prognosen bereits beinhaltet?

Das glauben etliche Marktbeobachter nicht. Was sie vor allem skeptisch stimmt: Der Aufschwung von Ende März bis heute war nicht breit genug, sagen sie. Er wurde nämlich nur von wenigen – sehr wenigen Titeln getragen. Zudem klaffe der Markt sehr weit auseinander. Am amerikanischen S&P 500 wird das besonders deutlich: Dort schafften es nämlich seit Mitte Februar von insgesamt 500 Firmen nur 38 wieder in den positiven Bereich. Sie bügelten also den Kursabschwung wieder aus, wenige kleine Ausreißer (deren Namen man eher nicht kennt), legten sogar mächtig zu. Doch unter den Firmen, die es immerhin wieder in die hellgrüne Performancezone schafften, waren auch einige Dickschiffe wie Amazon (plus 9,7 Prozent) und Walmart (plus 7,8 Prozent).

Aber: Verbreitet verbuchen die S&P-500-Indexfirmen noch 20 bis 30 Prozent Verluste, mehr noch: Über 100 von ihnen, also immerhin jede fünfte, notiert heute noch bei minus 40 Prozent Verlusten und schlechter. Das zeigt, dass der Aufschwung bisher nur bei einigen wenigen Firmen ankam, bei vielen anderen dagegen nicht. Das ist es, was ihn so trügerisch mache, sagen die Skeptiker.

Ihm fehlt es nämlich im doppelten Sinne an Breite: Er betrifft wenige – und auch noch vornehmlich eine Branche, die Tech-Aktien. Die liefen bei der Performance kräftig vorweg und zogen so den gesamten Index in die Höhe. Denn allein die größten fünf von ihnen machen derzeit ein Fünftel des S&P-500-Index aus. Dieses Übergewicht hatte den großen Kursboom der letzten Jahre erst möglich gemacht, bei dem sie deutlich outperformten und so die Rekordkonzentration im Index bewirkten. Dagegen schlug sich der Großteil des S&P-500-Index seit Februar deutlich schlechter, als es der von den Big5 verzerrte Gesamtindex vermuten lässt, mahnt der Goldman Sachs Aktienstratege.

Gefährliche Unwucht

Könnte man das als gutes Zeichen sehen und argumentieren: Dann habe der Markt ja die Risiken doch viel stärker eingepreist, als man auf den ersten Blick denken könnte? Zumindest müssten doch die sehr abgestraften Unternehmen nun auch wieder stark anziehen. Das wäre eine gewagte These. In erster Linie sollte das große Übergewicht der Tech-Aktien die Anleger vorsichtig machen, meint Kostin. Denn solche starken Übergewichte seien nie ein gutes Zeichen, sie verringern die Marktbreite in Indizes.

Und sie treten vor allem dann auf, wenn der Mart danach einen großen Absturz hinlegt. 1999 war es so, 2008 ebenfalls. Auch 2011 ließ es sich beobachten. In diesen Crashs relativierten die Kursstürze die Übergewichte einzelner Branchen erst wieder, bevor der Gesamtmarkt wieder nachhaltig zu steigen begann. Er ließ sich also nicht von der Unwucht antreiben, sondern stutzte sie eher zurecht.

Dazu kommt noch eine scheinbar banale Warnung, die aber durchaus schlüssig erscheint: Auch wenn uns heute alles immerzu nicht schnell genug gehen kann, so sagt die Statistik doch: Bärenmärkte dauern für gewöhnlich im Schnitt 20 Monate. Nicht bloß zwei Monate. Natürlich sind Abschwünge mal länger und mal kürzer, doch wer denkt, die schwerste Rezession seit 1930 habe der Aktienmarkt in nur acht Wochen abgearbeitet, der irrt.

Gemessen an den derzeit absehbaren Unternehmensgewinnen jedenfalls scheinen Indizes wie der MSCI World noch deutlich überbewertet, wenn man sich die Kurs-Gewinn-Verhältnisse (KGVs) ansieht. In den USA liegt das KGV im Schnitt bei 27, in Europa bei 18. Die Gewinneinbrüche schätzen die Analysten in den kommenden Monaten auf rund 35 bis 40 Prozent, wenn man das auf die aktuellen Kurse umrechnet, dann müsste der Kurs des S&P 500 rund 20 Prozent niedriger liegen. Oder andersherum gesagt: Der Stand, mit dem aktuell gerechnet wird, entspricht etwa dem, was Analysten für 2022 erwarten. Die Börsianer greifen also derzeit zirka zwei Jahre in die Zukunft. Das ist eine lange Zeit angesichts aktueller Unsicherheiten. Da darf sich jeder selber fragen, ob er das schon für verlässlich hält.

Trump ändert den Ton gegenüber Powell

Und nun zu Präsident Trump und seinem Lob für Jerome Powell. Man darf Trump unterstellen, dass er damit Folgendes bezwecken wollte: Er will den Chef der Fed für seine Idee gewinnen, die Leitzinsen in Amerika unter null zu drücken. Denn aktuell ist Trump neidisch auf Europa und Japan. Dort haben die Notenbanken die Leitzinsen so weit gesenkt, dass sich die Staaten sogar zu Negativzinsen verschulden können, also Geld von ihren Investoren bekommen, wenn sie mit neuen Milliarden-Hilfspaketen versuchen die Wirtschaft zu retten. Die eigene Staatsverschuldung bleibt dank der Minuszinsen beherrschbar, weil zumindest die Zinszahlungen nicht größer werden.

Trump findet, das stehe ihm auch zu, das sagte er auch diese Woche ganz klar. Die USA ächzen seit Jahren unter ihrer hohen Verschuldung. Und die drohende Pleite des Staates wendeten sie zuletzt mehrfach knapp ab, zuletzt im September 2019.

Powell erteilte der Negativzinsidee am Mittwoch jedoch eine Abfuhr. Die Fed denkt zurzeit nicht daran, den Leitzins ins Negative zu drehen. Weil sie die Folgen für Banken und Sparer nicht restlos einschätzen kann. Das bedeutet aber auch: Für Trump wird es anscheinend knapp. Mit Drohungen kommt er beim Fed-Chef nicht weit, das hat Letzterer mehrfach signalisiert.

Sorge um US-Verschuldung

Ob er mit seinem Lob weiterkommt, darf man zwar auch bezweifeln. Aber allein die Tatsache, dass er seine Strategie ihm gegenüber ändert und vehement die Negativzinsen herbeitwittern will, verheißt wenig Gutes. Es könnte ein Beleg dafür sein, dass er für neue Milliardenprogramme keine rechten Spielräume mehr hat. Neue Staatshilfen aber werden nötig sein, um der amerikanischen Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen. Nur ist die Frage, wie viele Milliarden die USA noch finanzieren können, ohne dass sie den Haushalt überstrapazieren.

Und vor allem, ohne den Markt der Staatsanleihen-Investoren zu verschrecken. Denn eine tatsächliche Zahlungsfähigkeit der Vereinigten Staaten würde für die Finanzmärkte ein Erdbeben bedeuten. Viele andere Staaten und auch europäische Banken haben US-Staatsanleihen in den Bilanzen. Und nicht umsonst mahnten viele Kritiker, wenn sich an den Märkten eine Blase aufblähe, dann solle man sich nicht vor der vielen Luft im Aktienmarkt fürchten, sondern vor der bei den Staatsanleihen.

Infografik: Corona-Krise lässt Staatsschulden steigen | Statista

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Zurzeit ist die US-Staatsverschuldung in Billionen Dollar bereits mehr als doppelt so hoch wie 2008, damals lag sie bei knapp 11 Billionen Dollar. Heute sind es rund 25 Billionen. Allein unter Trump ist sie von rund 19 Billionen Dollar auf 25 angestiegen, also um über 25 Prozent. 2022 werden es bereits über 27 Billionen sein. Inzwischen ist die US-Verschuldung inflationsbereinigt annährend so hoch wie nach dem Zweiten Weltkrieg in den 50er-Jahren.

Die Vereinigten Staaten sind eines der höchstverschuldeten Länder weltweit. Es ist daher nicht nur beim Aktienmarkt die Frage, wie lange das wohl noch gut geht. Es gäbe jedenfalls im Ernstfall wohl nur einen, der da Abhilfe schaffen könnte: Die Fed müsste US-Staatspapiere kaufen. Gut also, wenn man sich Jerome Powell jetzt gewogen hält.

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