Schlange stehen mochte ich noch nie. Ich hasse es, Einkaufswagen in den Hacken oder Atemstöße im Nacken zu spüren. Glück im Unglück also, dass sich derzeit zwar vor vielen Geschäften Warteschlangen bilden, in denen aber penibel Abstand gehalten wird. Deutschland rückt auseinander – und ich atme auf.
Meine Freunde sollten diese simple Corona-Lehre dringend auf ihre Depots übertragen. Mit Weinkrämpfen und Panikattacken stellen sie mir derzeit immer nur eine Frage: „Hast du deine Fonds noch? Meine sind 30 Prozent im Minus, soll ich verkaufen, bevor es noch schlimmer wird?“ Ich sage jedem: „Noch schlimmer wird es nur, wenn du jetzt verkaufst. Guck einfach eine Weile nicht hin.“ Dann schlucken sie erst recht.
Mal ehrlich, wann haben Sie zuletzt ins Depot geguckt? Vor zehn Minuten? Heute Morgen? Gestern? Und? Grausam, oder? Dann halten Sie doch lieber Abstand, bevor auch Sie sich mit dem Angstvirus infizieren! Und wenn Sie unbedingt rote Zahlen sehen müssen, dann versuchen Sie, wenigstens innerlich Abstand davon zu gewinnen.
Ja, Marktkrisen wüten. Sie pulverisieren das Kapital um 40, 50, manchmal 80 Prozent. Es gab vier schlimme Kurseinbrüche seit dem großen Crash von 1929: 1974, 2000, 2008 – und diesen. Es ist der dritte Absturz, den ich als Anleger durchlebe – und auch diesmal werde ich mich zurückhalten. Im Jahr 2000 konnte ich nicht anders. Da steckten meine Fonds noch in Fondspolicen, und ich erfuhr das wahre Ausmaß der Katastrophe erst, als deren Standmitteilung kam. Zum Handeln war es da zu spät.
Statistisch hat das Depot eine hundertprozentige Genesungschance
So ließ ich alles weiterlaufen und legte mir später ein Fondsdepot zu, das ich besser beobachtete. 2008 sah ich ihm live beim Absturz zu, schon von Berufs wegen. Was ich tat? Nichts. Der Cost-Average-Effekt und die Lehren von André Kostolany trösteten mich: Ich kaufte jetzt eben neue Anteile billiger – und legte mich schlafen.
Bis Ende Februar dieses Jahres hielt sich mein Fondsdepot wacker. Jetzt kriegt es wieder die Krise. Doch mich tröstet die Statistik: Bisher erholte sich jeder Bärenmarkt, auch wenn es mal 30 Monate dauerte. Die Wahrscheinlichkeit, die Verluste nach einem Jahr aufgeholt zu haben, beträgt seit 1926 drei zu eins. In 70 Zeiträumen schaffte man es, in 25 nicht. Wartete man fünf Jahre, lag sie bei sieben zu eins. Wer kurz vor 2000 einstieg, vor dem Doppelcrash, so wie ich, musste bis 2013 aushalten.
Und raten Sie mal, wie wahrscheinlich es ist, nach 15 Jahren nicht wieder im gesunden Bereich zu sein? Null Prozent. Statistisch hat das Depot eine hundertprozentige Genesungschance, wenn man lange genug Abstand hält. Panikverkäufer dagegen realisieren nur Verluste.
Für ängstliche Anleger heißt also das Gebot der Stunde: Risiko reduzieren – aber erst, wenn die nächste Aufwärtsphase kommt. Und zwar so: Aktienfonds behalten, aber nicht draufsehen. Und neues Geld stattdessen in Anleihen-ETFs stecken, das bremst künftig die Abschwünge im Depot. Bloß tut genau das keiner im Boom, wenn die Aktien gut laufen. Weshalb beim nächsten Crash dann wieder Heulen und Zähneklappern herrschten. Abstand wirkt also auch bei Kursen Wunder – in harten wie in guten Zeiten.
Nadine Oberhuber ist Capital-Korrespondentin in München. In ihrer Kolumne schreibt sie jeden Monat über die Freude und die Last mit der Geldanlage und der Altersvorsorge.